Die Andacht zum Wochenspruch – von Manfred Günther in den 90er Jahren verfasst – gelesen von Gert Holle
24. - 30. März 2024
Wochenspruch zur Woche nach dem Sonntag "Palmarum":
Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Joh. 3,14b,15)
Der Menschensohn muss erhöht werden... Wir wissen, wohin Jesus »erhöht« wurde: ans Kreuz. Das »musste« sein?
In einem Gespräch, das ich einmal mit einigen Gemeindegliedern hatte, ging es um die »Gerechtigkeit Gottes«. Es war schon erstaunlich, wie einmütig wir alle davon sprechen konnten: »Gott ist kein Rechenmeister«, hieß es. Und: »Seine Gerechtigkeit heißt Gnade«, »er will uns nicht das zuteilen, was wir eigentlich verdient haben.« Und noch andere gute Gedanken waren da zu hören. Wirklich »evangelische« Gedanken, »frohe Botschaft« für alle Menschen, die unter der Macht der Sünde und des Todes stöhnen. Aber mir ging plötzlich noch etwas ganz anderes durch den Kopf: Wenn Gott doch »gnädig« ist, warum musste sein eigener Sohn dann sterben? Warum verlangt Gott diesen Tod, wenn er doch die Liebe und Güte selbst ist? Und noch etwas kam mir in den Sinn - ich konnte mich gar nicht dagegen wehren: Ob wir vielleicht von der Gnade Gottes nur so schön reden können, aber gar nicht an sie glauben!? Ob wir uns nicht darum gar nicht mehr über das Leiden des Gottessohnes wundern, weil wir Gott in unserem Herzen eben doch für einen Rechenmeister halten?
Mir fielen auch einige Anhaltspunkte für diese Sicht ein: Wie oft haben wir schon gedacht, wie gut geht es doch diesem oder jenem gottlosen Nachbarn! Warum hat er nur so viel Erfolg im Beruf? Wieso gelingt ihm immer alles, was er nur anpackt? Stand dahinter nicht die Meinung, Gott müsste den, der ihn ablehnt, doch mit böser Erfahrung und Misserfolgen strafen? Oder umgekehrt: Wie häufig hatten wir mit Gottes Hilfe gerechnet, dass er unsere Mühe belohnt, dass er uns die Gesundheit zurückgibt, weil wir doch so gut und fromm waren, weil wir uns doch für unseren Mitmenschen so aufgeopfert hatten...
Ein letztes Beispiel: Es gibt auch Menschen, die erwarten nach einer längeren Zeit des Glücks den Schicksalsschlag, der ihr Leben erschüttert. Und je länger die Zeit der Freude dauerte, desto schwerer wird der Schlag sein. Steht diesen Menschen nicht auch ein Bild von Gott vor Augen, das arg düster und bedrohlich aussieht - und ganz und gar nicht »gnädig«?
Doch: Es scheint so, als würden wir mit unseren Lippen anders von Gott reden als mit unseren innersten Gedanken! Wir preisen die Gnade Gottes. Wir loben ihn, weil er uns nicht richtet, wie es uns zukommt. Aber - im selben Augenblick - können wir den Schlag seiner Hand in dem erkennen, was einem Mitmenschen Schlimmes geschieht. Im gleichen Atemzug nennen wir Gott ungerecht, weil er unser Wohlverhalten nicht belohnt. Wir sind seltsame Leute! Gottes vergebende Liebe und sein gnadenloses Richten. Wie soll das zusammenpassen? - Überhaupt nicht!
Ich glaube inzwischen, darin liegt der Grund dafür, dass Gott seinen Sohn ans Kreuz schicken musste. »Der Menschensohn muss erhöht werden...« Wie sollten denn sonst Leute, wie wir sie sind, begreifen: Durch dieses Opfer am Kreuz ist jetzt wirklich alle Schuld bezahlt und ausgeglichen. Was soll Gott denn noch mehr tun, als den eigenen Sohn hingeben? Er »muss« so handeln, weil wir scheinbar in unseren Köpfen und Herzen anders nicht fassen können, dass wir einen gnädigen Gott haben. Zugegeben, das klingt schon fast ein wenig verrückt, aber Gott verlangt dieses Opfer, damit wir daran verstehen, dass er keine Opfer haben will. Er straft den einen, dass wir daran erkennen, er will uns nicht strafen. Er bringt den Sohn ins Gericht, um uns deutlich zu machen, er richtet nicht, sondern ist gnädig.
Unser kleines menschliches Denken steht dahinter, wenn Gott diesen Weg zu unserem Heil wählt: Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.