Die Andacht zum Wochenspruch – 10. – 16. Dezember 2023 – von Manfred Günther in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verfasst – gelesen von Gert Holle
„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung
naht!" (Lk. 21, 28)
Denken wir da nicht an solche Sprüche: "Kopf hoch, laß dich nicht so hängen?" - "Du darfst dich nicht unterkriegen lassen!" - "Nur Mut, es wird schon wieder." Ist das hier gemeint? Geht es um
billigen Trost, um Worte, die sich doch so schnell - und leicht! - dahinsagen?
Gewiss, manche haben das heute auch nötig: ein gutes Wort, ein Schulterklopfen, das sie aufbaut. Aber wie schnell ist das wieder auf-gebraucht! Kaum hat einer den Kopf gehoben, kaum hofft er,
dass jetzt auch einmal bessere Tage kommen - da trifft ihn der nächste Schlag. Oft ist das so. Darum: Nichts gegen ermunternde Worte, aber echte Hilfe muss tiefer gehen!
"Seht auf und erhebt eure Häupter..." Dieses Wort will wirklich helfen. Diesem Vers geht es nicht um Trost für ein paar Augenblicke; es geht um eine Haltung, um eine Lebenseinstellung.
Nehmen wir dieses Wort doch einmal "wörtlich": "Seht auf!" Blicken wir doch einmal weg von uns. Heben wir unsere Augen über unsere Sorgen, unsere Ängste, unser Leid und unsere Bedürfnisse hinaus.
Was sehen wir jetzt? - Den Mitmenschen sehen wir. Zuerst den in unserer nächsten Nähe: Unseren Ehegefährten, unsere Kinder, unsere Eltern, die Hausgenossen... Und was entdecken wir? - Die haben
ja auch Sorgen, auch Ängste, auch Leid und auch Bedürfnisse! Die beschwert - vielleicht schon jahrelang - ein Kummer. Die wünschen sich so sehnlich... Möglich, dass wir jetzt erschrecken! Der
Kummer, den unser Partner hat, ist ja durch uns verursacht! Die Wünsche, die wir im Gesicht unserer Lieben lesen, sind Wünsche - an uns! "Seht auf..." Da wollten wir doch nur den Blick von
unseren eigenen Nöten los-bekommen und jetzt das: Die Not der anderen schaut uns an; die Wünsche und Bitten unserer liebsten Menschen fordern uns! Und nicht nur die! "Erhebt eure Häupter!" Wir
sehen jetzt auch die anderen, die in der Ferne, die Ausgestoßenen unserer Gesellschaft, die von Hunger und Krieg Bedrohten, die Asylsuchenden und Flüchtlinge, die Außenseiter, die Angehörigen von
Randgruppen, die Opfer von Folter und Gewaltherrschaft... Ja, werden wir den Blick jetzt nicht schnell wieder senken? Schauen wir angesichts all des Leids und Elends nicht lieber wieder auf
unsere Füße, auf unseren Bauch? - Das ist nur die eine Möglichkeit.
Viele wählen sie - und bleiben dabei. Sie entscheiden sich für ein Leben in der Enge des eigenen Ichs. Sie kommen niemals über die eigene Person hinaus. Dabei entgeht ihnen die Weite des
Ausblicks in eine wahrhaft herrliche Zukunft! Denn wir können den Kopf noch weiter heben. Wir dürfen die Augen auch schon vom Elend dieser Welt lösen und schauen, was da am Horizont zu sehen ist:
Dort geht die Herrlichkeit einer neuen Welt auf! Dort ist es hell, dort wird es kein Leid und keine Angst mehr geben. Dort steht das Zeichen des Sieges - das Kreuz.
Aber zuerst müssen wir den Kopf aufheben, einmal von uns selbst absehen, die Nächsten und die fernen Mitmenschen wahrnehmen mit ihren Sorgen, ihren Bedürfnissen, ihren Nöten... Ja, notwendig
führt unser Blick, wenn er sich hebt, über Leid und Kummer unserer Mitmenschen! Das soll so sein. Erlösung nämlich hat immer etwas mit all den anderen Menschen zu tun, die mir zu Gefährten und
Nächsten gemacht sind. Wer sich deren Kummer nahegehen lässt, wird selbst fröhlicher. Wer deren Not lindert, dessen eigene Last wird kleiner. Wer ihre Mühe zu seiner eigenen werden lässt, kann
selbst aufatmen. Das alles ist sicher nicht so leicht, wie es sich anhört - aber leicht ist der Anfang: Die Augen heben, weg von sich selbst sehen, den Nächsten in den Blick nehmen, sein Elend
erkennen... Mag sein, dass uns allein dieser Blick schon eine Hilfe für uns selbst wird:
Wie groß dachte ich doch immer von meinen eigenen Sorgen, wie schlimm
schien mir die eigene Not! - Mein Mitmensch aber leidet ja viel schlimmer! Seine Lasten sind ja viel schwerer! Mag auch sein, dass wir es dann nicht beim Sehen und Erkennen lassen - die tätige
Hilfe, der Einsatz für den einen oder anderen Menschen meiner Umgebung, das Opfer an Geld für die fernen Nächsten und so manches mehr wird unserem Auge auch die Sicht in die helle Zukunft
eröffnen!
"Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!"
Autor: Manfred Günther; gelesen von Gert Holle - 8.12.2023