Die Pflege krankt: Pflegeversorgung stark gefährdet

Situation der Pflegeeinrichtungen in der Diakonie Hessen hat sich weiter verschlechtert / Diakonie Hessen stellt neue Umfrageergebnisse vor

 

19.07.2024

(Frankfurt/dwh) - Keine Besserung in Sicht: Dies zeigt eine Situationsabfrage unter den diakonischen Einrichtungen in der Langzeitpflege, die die Diakonie Hessen am Donnerstag veröffentlicht hat. Ein Drittel der an der Umfrage teilnehmenden Einrichtungen der Langzeitpflege schätzen ihre Situation insgesamt schlechter ein als noch im Vorjahr. „Die Situation in der Pflege ist mehr als nur ernüchternd. Das Leistungsangebot ist stark gefährdet“, sagt Carsten Tag, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen, zu den Umfrageergebnissen. „Die Pflege krankt. Unsere Pflegeeinrichtungen müssen immer häufiger von Monat zu Monat ihre Finanzierung neu ausrichten. So mangelt es schon seit Jahren an Personal – seien es Fach- oder Nachwuchskräfte. Dazu kommt, dass die Einrichtungen viel zu lange auf ihr mühsam verdientes Geld warten müssen, weil Sozialämter und Kostenträger oft erst verzögert zahlen. Dafür fehlen den Pflegeeinrichtungen aber finanzielle Rücklagen. Gleichzeitig müssen unsere Mitgliedseinrichtungen investieren, um rentabel zu bleiben und sich für die Zukunft gut aufzustellen.“

 

Finanzielle Schieflage geht zulasten der zu Pflegenden und ihrer Angehörigen

Die Auswertung der Mitgliederumfrage zeigt: Fast die Hälfte der ambulanten und ein Viertel der stationären Mitgliedseinrichtungen befinden sich in einer finanziellen Schieflage. Auch der Blick in die Zukunft ist pessimistisch: Über die Hälfte der ambulanten und mehr als ein Drittel der Teilnehmenden gehen davon aus, dass ihr Betriebsergebnis für dieses Jahr schlechter als 2023 ausfällt. So können 78 Prozent der teilnehmenden ambulanten Dienste ihr Leistungsangebot nicht ausschöpfen. Das heißt, dass sie weniger Pflegebedürftige betreuen können, als es eigentlich möglich wäre. Dies liegt vor allem an fehlenden Fach- und Arbeitskräften, aber auch an Klienten und Klientinnen, die sich die Leistungen wegen der gestiegenen Kosten nicht länger leisten können. Hinzu kommen nicht auskömmlich finanzierte Entgelte für die erbrachten Leistungen. Carsten Tag: „Bleiben Reformen aus, geht dies zulasten der Pflegeeinrichtungen und der zu pflegenden Menschen.“ Vielerorts müssen Pflegebedürftige zahlreiche Pflegedienste aufsuchen und lange Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn sie professionelle Hilfe und Pflege benötigen. „Wie soll das noch weitergehen?“, so Carsten Tag. „Krankt die Pflege, krankt auch unsere Wirtschaft. Die Politik hat es in der Hand und muss endlich Verantwortung übernehmen und eine umfassende Pflegereform umsetzen. Damit Pflegende auskömmlich bezahlt und Pflegebedürftige würdevoll gepflegt werden können.“

 

Pflegebedürftige entlasten, Kosten refinanzieren

Die Pflegeeinrichtungen stehen unter großem Investitionsdruck. Sie erwarten massive Investitionen in die bestehende Infrastruktur zu Nachhaltigkeit und Klimaneutralität, Digitalisierung, Fuhrpark und vieles mehr. Diese Investitionen sind mit hohen Kosten und längeren Amortisationszeiten verbunden. Sonja Driebold, Abteilungsleiterin Pflege bei der Diakonie Hessen: „Das Investitionsrisiko auf dem Weg zur Klimaneutralität darf nicht allein bei den Pflegeeinrichtungen liegen. Die Investitionen müssen refinanzierbar sein. Die Landesregierungen müssen sich wieder aktiv am Neu- und Ausbau der pflegerischen Infrastruktur beteiligen und drastisch die öffentliche Förderung erhöhen. Die Refinanzierung kann nicht weiter zulasten der Bewohner*innen sowie der kommunalen Sozialhilfeträger gehen. Auch ambulante Einrichtungen müssen bei der Umsetzung von Maßnahmen der Nachhaltigkeit unterstützt werden, z.B. durch den Ausbau von alternativer Mobilität und Infrastruktur (z.B. Fuhrpark, Ausbau Glasfaser & LTE-Netzausbau).“ Es gibt einen großen Änderungsbedarf. Dies zeigt auch, dass trotz der prekären Lage, 92 Prozent der Befragten in ihre Infrastruktur investieren wollen, damit Versorgung erfolgen kann.

 

Sozialraum und demokratisches Miteinander stärken

Die Umfrage bestätigt auch die Ergebnisse des letzten hessischen Pflegeberichts 2023. Beide zeigen auf, dass in Zukunft mehr pflegerische Versorgungskapazität gebraucht wird, gleichzeitig jedoch schon heute nicht ausreichend Ressourcen wie Personal und finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um den Bedarf zu decken. Carsten Tag: „Damit die Hilfs- und Pflegebedürftigen auch in Zukunft die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, brauchen wir Gestaltungsmöglichkeiten. Dafür müssen wir die Zivilgesellschaft stärker einbeziehen. Wir brauchen auch vor allem die Möglichkeit, in einem strukturell, rechtlich wie auch finanziell sicheren Rahmen Neues auszuprobieren und – bei Gelingen – in die Regelversorgung zu implementieren. „Damit Innovationen in der Versorgung auch in Hessen und Rheinland-Pfalz nachhaltig entwickelt werden, braucht es sowohl eine modellhafte Förderung von Einzelprojekten als auch die Bereitschaft vonseiten der Kostenträger für neue Wege der regelhaften Finanzierung“, sagt Carsten Tag abschließend.

 

Die Forderungen der Diakonie Hessen im Überblick:

  • Stärkere Förderung der Investitionskosten durch das Land für mehr Versorgungssicherheit – für mehr Liquidität, weniger Insolvenzen und um den Anstieg von Eigenanteilen bei den Pflegebedürftigen zu begrenzen
  • Innovative Versorgungsformen für Menschen im Alter und/oder mit Pflegebedarf müssen vom Land gefördert, von Anbietern entwickelt und umgesetzt werden
  • Stärkung des Sozialraums durch eine nachhaltige Refinanzierung für gelingende Vernetzung von professionellen und informellen Hilfestrukturen
  • Vereinfachung der Verfahren im Gesundheitsbereich und der Bürokratisierung
  • Grundlegende Finanz- und Strukturreform der Pflege für bezahlbare Pflege

 

Pflege in der Diakonie Hessen

Die Situationsabfrage ist Teil einer umfassenden Aktion der Diakonie Hessen und ihrer Mitgliedseinrichtungen, mit der sie auf die gefährdete Versorgungssicherheit in der Pflege aufmerksam machen. Bereits im vergangenen Jahr hat die Diakonie Hessen eine Umfrage zur wirtschaftlichen Situation der Pflegeeinrichtungen in der Altenhilfe veröffentlicht. Das Ergebnis war besorgniserregend. Ein Drittel der Pflegeeinrichtungen in Hessen waren 2023 von Insolvenz bedroht. Die aktuelle Umfrage schließt hier an und legt den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit der Pflegeeinrichtungen. Über 110 Einrichtungen der ambulanten, teilstationären und stationären Langzeitpflege haben im Juni an der Umfrage teilgenommen. Zur Diakonie Hessen gehören 346 Pflegeeinrichtungen, die 2022 einen Gesamtumsatz von über 810 Mio. Euro erwirtschafteten und Arbeitgeber von mehr als 15.000 Mitarbeitenden sind.

 

Zu den ausführlichen Ergebnissen

 

 

HINTERGRUND

 

Diakonie Hessen – Werk der Kirche, Mitgliederverband und Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege

Die Diakonie Hessen ist als Werk der Kirche Mitglieder- und Spitzenverband für das evangelische Sozial- und Gesundheitswesen auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW). In den Geschäftsstellen in Frankfurt am Main und Kassel, dem Evangelischen Fröbelseminar, sowie den Evangelischen Freiwilligendiensten arbeiten über 300 Mitarbeitende. Dazu kommen circa 520 Freiwillige, die sich in den verschiedenen Programmen des freiwilligen Engagements einbringen.

Der Diakonie Hessen gehören 440 Mitglieder an. Insgesamt sind bei der Diakonie Hessen und ihren Mitgliedern zusammen rund 42.000 Mitarbeitende beschäftigt, die im Geschäftsjahr 2021 einen Gesamtumsatz von über 2,4 Milliarden Euro erwirtschaftet haben.

 

Dem Vorstand des Landesverbandes gehören Pfarrer Carsten Tag (Vorstandsvorsitzender) und Dr. Harald Clausen an.