Ein Dorf, eine Geschichte, eine Leidenschaft

Fränkische Passionsspiele in Sömmersdorf ziehen mit Neuinszenierung Zuschauer in den Bann – Schirmherr Bischof Jung: „Das ist wahnsinnig spannend“

 Viele emotionale Momente hat die aktuelle Inszenierung der Sömmersdorfer Passionsspiele zu bieten. Foto: © Markus Hauck (POW) |
Viele emotionale Momente hat die aktuelle Inszenierung der Sömmersdorfer Passionsspiele zu bieten. Foto: © Markus Hauck (POW) |

 

27.06.2024

(Sömmersdorf/mh/POW) - Stehende Ovationen, Begeisterung bei den Zuschauern – und Stolz bei Beteiligten und Förderern: Die Fränkischen Passionsspiele im 680-Einwohner-Dorf Sömmersdorf haben bei ihrer Premiere zur Spielzeit 2024 am Sonntagnachmittag, 23. Juni, das Publikum in den Bann gezogen. Eine grundlegend erneuerte Inszenierung mit rund 400 Personen auf der Bühne, eigens komponierte Livemusik zur Passionserzählung, zahlreiche neue Kostüme, eine neue Einbeziehung der zentralen Videoleinwand in das Geschehen, Solo-Gesangsstücke, deutlich verstärkte Nutzung der unterschiedlichen Spielebenen und vieles mehr – die Fränkischen Passionsspiele, seit 2020 im Bayerischen Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO, haben sich einmal mehr neu erfunden und gesteigert. Oder um es mit den gesungenen Schlussworten der beteiligten Akteure zu sagen: „Eine Geschichte, ein Dorf, eine Leidenschaft.“

Unter der gemeinsamen Regie von Silvia Kirchhof und Kai Christian Moritz wird die Leidens- und Liebesgeschichte Jesu im Sömmersdorfer „Münsterholz“ heuer neu erzählt und zum intensiven Erlebnis für die Zuschauer. Unter anderem durch eine grundlegende Überarbeitung des Texts. Ob bestimmte Figuren zu den Guten oder den Bösen gehören, muss bei mehreren Figuren jetzt von den Zuschauern selbst beantwortet werden. Mit Videoeinspielungen auf der großen LED-Rückwand werden Gedanken und Emotionen eingebracht. So wird das Spiel auf der Bühne, bei den Massenszenen wie der Verurteilung vor Pilatus wie bei der Einsamkeit und dem Hadern Jesu am Ölberg, zu einem ständigen Wechselbad der Gefühle.

Die Frauenrollen haben eine neue Wichtigkeit bekommen, wie Regisseurin Kirchhof erklärt. „Sie sind auf Augenhöhe mit Jesus und werden den Weg mit ihm gehen.“ Diese verstärkte Präsenz sei einer der neuen Akzente. „Wir wollten, dass sie auf der Bühne stehen und präsent sind und nicht dienend und im Hintergrund, sondern genauso wichtig wie die Männer.“ Und noch etwas sei ihr und Regiekollegen Moritz wichtig gewesen: Es sei erleichternd gewesen zu spüren, dass das Publikum an den Stellen, wo das gewünscht war, ganz still wurde oder eben auch lachte.

„Beim Text ist viel passiert“, sagt auch Tobias Selzam, Jesus-Darsteller bei der Premiere. Das sei gut und richtig, denn es gehe darum, „den guten Geist“ auch ins Heute rüberzubringen. Auch wenn das für ihn, der zum dritten Mal Jesus darstellt, bedeute, den neuen Text lernen zu müssen. „Man wird getragen von den vielen Leuten, die mitspielen, von Leuten, die im Volk dabei sind, von den Römern, von den Wächtern, von Leuten aus dem Hohen Rat. Auch wenn es bei manchen Szenen auf der Bühne nicht so ausschaut, ist es tatsächlich ein großes Miteinander“, betont Selzam. Patrick Spyra, an diesem Nachmittag Judas, sieht das ähnlich: „Wir kämpfen bis zur letzten Sekunde der Aufführung, dass wir da was Wundervolles für die Zuschauer zaubern. Das ist, was uns ausmacht.“

Bischof Dr. Franz Jung, Schirmherr der Sömmersdorfer Passionsspiele, lobt die Inszenierung der Passion. „Das Ringen mit dem Bösen, das bei der vorigen Aufführung in Form einer Person immer wieder über die Bühne schlich, ist jetzt ganz internalisiert in die beiden zentralen Figuren Jesus und Judas. Letzterer ringt sehr, sehr eindringlich um das, was er da tut.“ Für Judas gehe es darum, ob es ihm gelinge, diesen Jesus tatsächlich dazu zu zwingen, als Messias durchzugreifen und die Hoffnung wahrzumachen, die sie als Jüngerinnen und Jünger in ihn gesetzt haben. „Und das ist wahnsinnig spannend.“

Auch die politische Prominenz zeigt sich vom Stück berührt. „Besonders beeindruckt hat mich die Szene am Ölberg. Jesu Zweifeln und Zögern wurden darin sehr gut und ausführlich gezeigt, wie man das eigentlich sonst so nicht kennt von den Passionsspielen“, sagt Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach. Sie glaube, dass viele Menschen dadurch gut abgeholt würden, „weil man natürlich auch selbst eigene Zweifel, eigene Gedanken hat, die vielleicht nicht jeden Tag gut sind, und man mit sich und der Welt manchmal auch ein bisschen ringt“. Florian Töpper, Landrat des Landkreises Schweinfurt, lobt, dass trotz der inhaltlichen Dichte in der Passion auch eine gewisse Leichtigkeit zu finden sei. „Es ist meines Erachtens eine gelungene Mischung.“ Es sei den Sömmersdorfern abermals gelungen, eine bekannte Geschichte in die aktuelle Zeit einzubetten. „Das freut mich als Landrat natürlich über die Maßen.“

Tief beeindruckt verlassen die rund 1600 Zuschauer des Passionsspiels am späten Sonntagnachmittag die überdachte Freilichtbühne. „Das war ergreifend und fernsehreif. Das ist für jeden empfehlenswert, der sich für den christlichen Glauben interessiert.“ Er habe sein Taschentuch noch jetzt in der Hand, erklärt ein Besucher. „Sensationell. Die Menschen, die Kostüme, die Ausstrahlung. Wir haben Gänsehaut“, sagen zwei Zuschauerinnen. „Ein mächtiges Spektakel, von den Laienschauspielern sehr eindrucksvoll rübergebracht“, betont eine Gruppe aus Miltenberg.

 

Weitere 17 Aufführungen finden bis 18. August statt. Kartenvorbestellung und Verkauf bei: Geschäftsstelle der Fränkischen Passionsspiele, Ecke Zinnstraße/Passionsweg, 97502 Sömmersdorf, Telefon 09726/2626, E-Mail info@passionsspiele-soemmersdorf.de, Internet www.passionsspiele-soemmersdorf.de

Lexikon: Passionsspiele Sömmersdorf

© Markus Hauck (POW)
© Markus Hauck (POW)

 

24.06.2024

 

 (POW) 18 Aufführungen, knapp 400 Frauen, Männer und Kinder auf der Bühne, allein 44.000 Probestunden: Für ein Dorf mit knapp 700 Einwohnern sind die Passionsspiele von Sömmersdorf eine beeindruckende Leistung. Die Anfänge waren vergleichsweise schlicht.

Die erste Aufführung unter Spielleiter und Organisator Guido Halbig, dem damaligen Dorflehrer, findet am Pfingstsonntag 1933 statt. 70 Einwohner des 280-Seelen-Dorfes wirken mit. Das Spiel umfasst 14 Aufzüge und dauert vier Stunden. Rund 14.000 Zuschauer besuchen in den beiden ersten Spieljahren Sömmersdorf. Die Reichstheaterkammer untersagt schließlich am 24. Mai 1935 weitere Aufführungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es 1957/58 einen Neubeginn. Weil das Gelände am Wirtshausgarten inzwischen verbaut ist, stellt die Gemeinde ein Waldstück am nördlichen Dorfrand zur Verfügung. Rund 40.000 Besucher sehen die 25 Aufführungen mit 120 Mitwirkenden. Die Inszenierung von 1961 bringt Änderungen bei Text und Szenen für die 160 Mitwirkenden auf der Bühne. 1967 werden der Holzaufbau der Innenbühne sowie die seitlichen Aufbauten durch massive Bauwerke mit modernen Umkleiden und Schminkräumen ersetzt. Das kupferbeschlagene Tor aus dieser Zeit trennt heute noch Innen- und Vorbühne. Bei ARD und ZDF werden Berichte über das Sömmersdorfer Passionsspiel gezeigt.

 

In der Spielzeit 1973 wird am letzten von zwölf Spieltagen mit 2200 Personen ein neuer Zuschauerrekord aufgestellt. Nach dem Tod des langjährigen Passionsspielsvereinsvorsitzenden Edwin Schnös 1976 wird Robert Seemann dessen Nachfolger. 1978 werden die fünf größten Rollen zum ersten Mal doppelt besetzt. Weil im Neubaugebiet neue Menschen zugezogen sind, gibt es 252 Mitwirkende, unter ihnen mehr als 100 Kinder und Jugendliche. Der Reinerlös der Spiele wird für den Bau der Kultur- und Veranstaltungshalle genutzt, die seit 2018 nach dem langjährigen Vorsitzenden Robert-Seemann-Halle genannt wird. 1983 führt der inzwischen 79-jährige Halbig zum letzten Mal Regie. Zahlreiche junge Mitwirkende und Rollenträger verstärken die inzwischen 320 Personen starke Spielerschar, viele der Mitwirkenden sind bereits in der dritten Generation seit Gründung der Spiele. Erstmals übernimmt Bischof Dr. Paul-Werner Scheele die Schirmherrschaft.

 

Während der Vorbereitungsphase der Passionsspiele 1988 stirbt Halbig, „Vater der Sömmersdorfer Passionsspiele“, in Bayreuth. Die Regie übernimmt Schauspielpädagoge Professor Paul Sonnendrücker aus Straßburg im Elsass zusammen mit seiner Assistentin Barbara Zorn aus Bad Schwalbach. Die neuen Spielszenen „Vertreibung der Händler aus dem Tempel“, „Jesus vor Herodes“ und „Geißelung“ werden eingebaut. In einem Teil des Zuschauerraums werden die alten Holzbänke durch bequeme Schalensitze ersetzt. Außerdem werden fünf als Sonnen- und Regenschutz geplante Schirmüberdachungen aufgestellt.

 

Für das Spieljahr 1993 werden zusätzliche Schalensitze im Zuschauerraum montiert. Zwei weitere Schirme zur Überdachung des Zuschauerraumes werden errichtet. Erstmals wird an vier Samstagabenden mit einer modernen Lichtanlage gespielt. Im Juli treffen sich 27 Passionsspielorte aus elf Nationen, darunter auch Delegationen aus den ehemaligen Ostblockstaaten, in Sömmersdorf zur sogenannten Europassion. 1998 werden durch den Anbau des Bühnenhauses Aufenthaltsräume für die Spieler, ein Schmink- und Kostümraum sowie Lagerräume gewonnen. Da es Sonnendrücker aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist, die Spielleitung zu übernehmen, ruht nun die ganze Verantwortung auf seiner bisherigen Assistentin Zorn, die von ihrem Sohn Bernhard unterstützt wird. Die Rückwand des Bühnenhauses wird erstmals mit einem Hintergrundgemälde künstlerisch gestaltet

2003 feiert Sömmersdorf das 70. Jubiläum der Passionsspiele sowie sein 700-jähriges Bestehen. 2007 übernimmt der bisherige dritte Vorsitzende Robert König das Amt des Vorsitzenden von Robert Seemann. Trotz gesellschaftlicher Herausforderungen in Vereinen und Kirche führt er den Verein zu neuen Höchstleistungen. In Zusammenarbeit mit der Gemeinde und dem Bürgermeister Arthur Arnold entsteht die Idee von „Kultur aus Passion“. 2013 werden mit einer Gesamtinvestition von 1,7 Millionen Euro viele Ideen wie die Sanierung und der Umbau des Bühnenhauses, die Unterkellerung der Vorbühne sowie die Anschaffung von Multifunktionsboxen zur Bewirtung der Besucher umgesetzt. Die Aufwertung durch Livemusik und die Szenenüberarbeitung des neuen Regieduos Marion Beyer und Hermann Vief begeistern

 

Mit der Fertigstellung der neuen Zuschauerüberdachung gelingt zum Spieljahr 2018 nach vielen Jahren der Planung ein Meilenstein in der Geschichte des Vereins. Auch in die Licht- und Tontechnik wird kräftig investiert, insgesamt 3,75 Millionen Euro. Regie führt erneut das Coburger Team Beyer/Vief. Erstmals bei einer Passion erfolgt eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Bühnenbauer André Putzmann. Über 350 Aktive auf und hinter der Bühne stemmen den Kraftakt für 34.000 Besucher.