In einer Welt, in der die unterschiedlichen Wirklichkeiten immer weiter auseinanderdriften, bleibt vor allem eines auf der Strecke: Vertrauen und das Gefühl der Verbundenheit. Wenn alle Bemühungen, uns zu einigen, gescheitert sind, wir vor einer unüberwindbaren Mauer der Entfremdung stehen, tun wir in der Regel das, was uns zur Erhaltung unseres Wohlbefindens am naheliegendsten erscheint: Wir werten Andersdenkende ab und gehen aus dem Kontakt. Bei dem Kommunikationsformat »Schwebedialog« tun wir weder das eine noch das andere.
Beginnen wir gleich direkt mit ganz konkreten Beispielen:
Was ist deine Haltung zur Abtreibung? Bist du für »My body, my choice« oder »Pro-Life«? Ist es wichtiger, dass jede Frau über ihren Körper selbst bestimmen kann oder sollte das Recht auf Leben - als Fundament aller Menschenrechte - absolut geschützt werden? Wer hat recht?
Wenn du die Gesetze zu diesem Thema gestalten könntest, wie würden sie aussehen?
Und wie positionierst du dich bei anderen Themen wie Sterbehilfe, LGBTQIA+, Gendern, Energiepolitik, Künstliche Intelligenz, Religionsfreiheit oder Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken wie Telegram, X, Truth Social oder BlueSky? Woher stammen deine Informationen und welche Quellen erachtest du als verlässlich?
Der Verlust an Vielfalt - Unsere »Bubbles«
Deine Perspektiven auf die Welt sind untrennbar mit dem verknüpft, was du täglich konsumierst – sei es durch Gespräche, Medien, soziale Netzwerke, Podcasts, Literatur oder Kunst. Viele von uns kehren dabei immer wieder zu denselben Quellen zurück, die unsere Sichtweisen stärken. Eine Frage: Wie oft suchst du gezielt nach Informationen, die deinem Weltbild widersprechen?
Deine Bubble, dein geschützter Raum von Gleichgesinnten, beeinflusst dein Denken enorm.
Doch seit der Einführung des Internets haben räumliche Distanzen an Einfluss verloren und damit auch ein natürliches Regulativ. Du kannst dich nun ungebremst jederzeit und überall mit Millionen von Gleichgesinnten auf der ganzen Welt vernetzen. Dabei ist es unvermeidbar, dass sich deine Positionen und Wertehaltungen dort wie in einer Echokammer gegenseitig verstärken.
Die Folge: Betrachtet man das Phänomen aus der Vogelperspektive, wird deutlich, dass wir in einer Welt voller abgeschotteter Blasen leben – seien sie politischer, ideologischer, kultureller oder technologischer Natur.
Die Welt außerhalb der eigenen Blase
Was nur schwer zu ertragen ist: Die Welt außerhalb deiner Bubble ist aktiv und lebendig - schlimmer noch, fremde Bubbles sind genauso dynamisch und vernetzt wie deine eigenen! Nachrichten aus diesen fernen Gedankenwelten können dich fassungslos oder wütend machen. Solche Emotionen verbreiten sich schnell per Social Media und heizen die Polarisierung an. Wie reagierst du auf Meldungen, die aus deiner Sicht unfassbar sind?
Wenn wir nicht nachvollziehen können, wie andere so anders denken können, unterstellen wir gerne Manipulierbarkeit oder Dummheit. Und so wirft jede Seite der anderen vor, sich von Fake News manipulieren zu lassen, und keiner hört dem anderen zu. Wenn beide Seiten dasselbe über die jeweils andere denken, wer hat dann recht? Ein unlösbares Dilemma.
Isolation und ihre Folgen
Ohne den Kontakt zu Menschen mit anderen Ansichten zu pflegen, verlieren wir die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln und unterschiedliche Perspektiven zu verstehen. Isolation in einer Bubble kann uns gegenüber den »anderen« gleichgültig oder sogar feindselig machen. Die Bereitschaft zu verbaler oder physischer Gewalt steigt auf allen Seiten.
Im Extremfall kann das Verharren in verschlossenen Gemeinschaften oder Echokammern zu Radikalisierung führen. Algorithmen helfen dabei, Menschen in ihrer Bubble zu halten, emotional aufgeladene Informationen weiter zu verbreiten und Hass zu schüren. Diese Dynamik fördert eine »Wir gegen die« Mentalität und senkt die Toleranz für Gewalt als Mittel.
Kontakt wiederherstellen
In dieser verfahrenen Situation könnte ehrlicher Kontakt eine Möglichkeit sein, wieder Brücken zu bauen. Ohne der Absicht, die anderen zu bekehren, den vermeintlich »fehlgeleiteten« Menschen die eigenen Ansichten aufzuzwingen, sondern um uns ganz bewusst auf Menschen einzulassen, die anders denken, leben, handeln und fühlen als wir. Der Schlüssel wäre ein offener Austausch, bei dem wir uns gegenseitig wirklich zuhören, ohne zu bewerten, zu belehren oder zu moralisieren.
Doch wie kann ein solcher Kontakt hergestellt werden?
Schwebedialoge: Ein Format für echten Kontakt
Ein vielversprechender Ansatz ist das Format des Schwebedialogs. Hier stehen nicht Lösungssuche, Überzeugung oder Einigung im Vordergrund, sondern das offene Aussprechen der eigenen Sicht auf die Dinge, während die anderen kommentarlos zuhören.
#1 Gedanken und Bedürfnisse ausdrücken.
Im Schwebedialog wird ein Raum geschaffen, in dem alle Gedanken und Gefühle ihren Platz haben. Das gibt dir die Freiheit, deine Perspektiven und Bedürfnisse offen und ohne Druck zu äußern, während dir aufmerksam zugehört wird. Umgekehrt siehst und hörst du auch die Lebensrealitäten aller anderen.
#2 Nicht sofort reagieren.
In einem Schwebedialog geht es weder um konkrete Lösungen noch um Einigung. Hier darf alles genau so sein, wie es ist. Lass die Worte des Gegenübers einfach auf dich wirken, ohne sie zu bewerten oder zu kommentieren.
#3 Plötzlich ist Kontakt da!
Durch die offene und respektvolle Kommunikation im Schwebedialog entsteht wie von selbst eine tiefere Verbindung. Ohne den Zwang, Probleme zu lösen oder widersprüchliche Bedürfnisse unter einen Hut bringen zu müssen, begegnen sich die Menschen auf einer authentischen Ebene und bauen so Vertrauen zueinander auf. Das schafft echten Kontakt und hilft, Stereotype zu überwinden und Gewaltbereitschaft zu reduzieren.
Offenheit als Notwendigkeit
Es ist wichtig zu verstehen, dass jede Bubble dem Zweck dient, die Welt im Sinne unserer Bedürfnisse zu beeinflussen. Sie sorgt für Orientierung, Halt und eine verlässliche Bestätigung unserer Identität. Beim Verteidigen von dem, was wir als wichtig erachten, geht es nicht einfach nur um Meinungen, sondern um unser geistiges und physisches Überleben.
Es wird unumgänglich sein, dass wir beginnen, Andersdenkenden wirklich zuzuhören - ohne sie abzuwerten, ohne zu interpretieren und ohne sofort auf Abwehr zu schalten. Jeder Lösungsansatz wird scheitern, wenn dieser erste Schritt fehlt.
Kontakt allein mag zwar nicht alle gesellschaftlichen Herausforderungen wie Polarisierung oder Extremismus lösen, aber er ist eine elementare Komponente. Ohne den ehrlichen Versuch, einander zuzuhören, bleiben alle Lösungen oberflächlich und unvollständig. Zuhören ohne sofort zu urteilen ermöglicht echte Begegnungen und kann die Eskalation von Spannungen verhindern.
Lasst uns mutig sein, einander zuzuhören – befreit von dem inneren Druck, immer eine Antwort oder eine Lösung bieten zu müssen.
Nur mit dieser Offenheit kann echte Verständigung wachsen, und nur so können langfristige Verbindungen zwischen unseren unterschiedlichen Bubbles zustande kommen.
Zu Beginn haben wir einige Fragen in den Raum gestellt, die Gesellschaften spalten können. Wo erlebst du persönlich im Moment die tiefsten Gräben zwischen dir und anderen Menschen? Was beunruhigt dich am meisten? Wovor hast du die größte Angst? Und was macht dich einfach nur ratlos oder wütend?
Was auch immer es konkret ist, eines ist sicher: Es gibt keine allgemeingültigen Lösungen für solche Probleme. Tritt für deine Meinungen ein, egal welche sie sind, mit voller Leidenschaft und Hingabe! Und vielleicht, wenn du deine eigene Haltung auch ein wenig in der Schwebe lässt, wirst du – unabhängig von deinen Überzeugungen – auch die Bedürfnisse derer verstehen können, die ganz anders denken, leben und fühlen als du. Das Ergebnis? Ein tieferes Verständnis dafür, was andere Menschen wirklich bewegt und damit die Chance, kleine, aber feine Brücken zu bauen in einer vielfach getrennten Welt.
In einer
Welt, in der Meetings, Workshops, Konferenzen, aber auch Gespräche im Rahmen von Coachings oder in der Familie meist darauf abzielen, Probleme zu lösen und konkrete Ergebnisse zu erzielen, bleibt
vieles auf der Strecke. Unser Denken ist so sehr auf die Lösung von Problemen fixiert, dass wir meist gar nicht bemerken, wie der »blinde Fleck der Problemlösungsbrille« unsere Wahrnehmung
einschränkt.
Britta Albegger und Geza Horvat haben mit dem Schwebedialog ein Kommunikationsformat entwickelt, das weder strikte Ziele verfolgt noch einen thematischen Fokus vorgibt. Es geht nicht um schnelle
Lösungen oder darum, sich einig zu werden. Stattdessen öffnet der Schwebedialog einen Raum für echten Austausch und erlaubt, dass alles genau so sein darf, wie es ist. Das Ergebnis? Ein tieferes
Verständnis dafür, was Menschen wirklich bewegt und wie unsere eigenen Vorstellungen die Realität formen, in der wir leben.
Ob im Team, in Beratungssettings oder mit den Liebsten – mit einem Schwebedialog schaffst du im Handumdrehen einen sicheren Ort für mehr Orientierung, Vertrauen, Kreativität und die Freiheit,
deine Gedankengebäude ein Stück weit vom Boden abheben zu lassen.
Warum „keine Ahnung haben“ sehr hilfreich sein kann
Keine
Frage: Der Titel „Schwebedialoge – Kommunizieren jenseits von Konsens und Lösung“ hat das Potenzial, neugierig zu machen. Zumal Britta Albegger und Geza Horvat versprechen, ein „neuartiges
Kommunikationsformat“ vorzustellen. Um das Geheimnis der Begriffsneuschöpfung direkt zu lüften: „Schwebedialoge“ haben nichts mit herkömmlichen Dialogen im Sinne eines normalen Gesprächs zu tun.
Vielmehr geht es vor allem darum, sich seiner Bedürfnisse in Anwesenheit zugewandter, aber schweigender Zuhörer bewusst zu werden (Dialog = zwischen den Worten sein). Antworten, Bewertungen und
Feedbacks sind ausdrücklich verboten! Möglichst in Anwesenheit eines geschulten Moderators füllen die nacheinander Sprechenden zuerst drei Karten aus: 1. Eine Schwebebildkarte (mit aktuellen
Herausforderungen), 2. Eine Bedürfniskarte und 3. Eine Energiekarte (auf der auch eine „wesentliche Frage“ notiert werden soll).
Danach tragen die Teilnehmenden nacheinander die Inhalte ihrer Karten vor, ohne dass es zu einem Austausch über die Inhalte kommt. Die Autoren gehen davon aus, dass allein dieser Vorgang
unbewusste kreative Vorgänge in Gang setzt, die über kurz oder lang das Leben der Teilnehmenden bereichern. Nach Ansicht der Autoren soll das von ihnen konzipierte Kommunikationsformat
ausdrücklich die in unserer Gesellschaft vorherrschenden „Problem-Lösungs-Gespräche“ sinnvoll ergänzen. Letztere wollen einen als unzureichend erlebten Ist-Zustand in einen besseren Soll-Zustand
überführen. Sie sind zielorientiert und laufen Gefahr, unsere Wahrnehmung zu verengen. Schwebedialoge beruhen laut Albegger und Horvat auf folgender grundlegender Einsicht: Menschen verhalten
sich überwiegend bedürfnisgesteuert. Die entsprechenden Bedürfnisse und die damit verbundenen Gefühle werden uns aber nicht direkt bewusst. Sie benötigen eine verbale Kodierung in Form von
Geschichten (Gedanken), die wir uns selbst oder anderen erzählen. An diese Geschichten (Gedanken) „glauben“ wir. Konflikte entstehen, wenn sich Menschen zu einem Thema widersprechende Geschichten
mitteilen und auf dem „Wahrheitsgehalt“ ihrer jeweiligen Geschichte beharren. Für solche Konflikte gibt es nur eine Lösung: Anzuerkennen, dass es eben nur Geschichten sind, die über die
eigentliche Wirklichkeit keine Aussage erlauben. Denn Geschichten (Gedanken) dienen vor allem unserem Überleben in der Welt und nicht der Wahrheitsfindung. Insofern räumen die Autoren aufrichtig
ein, dass auch ihr Buch nur weitere Geschichten vorstellt, von deren Nutzen die Verfasser allerdings überzeugt sind. Als „kopfbefreiendes“ Mantra geben sie der Leserschaft mit „Bitte erlaube mir,
mein Herz zu öffnen und keine Ahnung zu haben“.
Auf 195 angenehm zu lesenden und im Du-Stil gehaltenen Seiten beschreiben die Autoren nicht nur ihr Modell, sondern erläutern auch dessen wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen. Unter
anderem geht es um unser Bewusstsein und wie wir innere Welten (willkürliche Entitäten) erschaffen und dies in einem Kosmos, wo alles sich ständig verändert und daher letztlich nichts „ist“.
Albegger und Horvat betonen ausdrücklich, dass sie nur ein Kommunikationsmodell und keine therapeutische Methode vorstellen wollen.
Fazit: Ein durchaus anregendes und hilfreiches Buch. Es ist besonders solchen Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die ihre Gedanken noch zu ernst nehmen, die also fast alles glauben, was sie
denken. Auch Menschen, die sich noch schwertun, Bedürfnisse zu äußern, kann die Lektüre weiterhelfen.
Dr. Dr. med.
Herbert Mück
Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie, Prävention & Gesundheitsförderung
Britta Albegger und Geza Horvat
Schwebedialoge
Kommunizieren jenseits von Konsens und Lösung
1. Auflage BusinessVillage 2024
198 Seiten
ISBN 978-3-86980-759-1 26,95 Euro
ISBN-PDF 9783-8-6980-760-7 26,95 Euro
ISBN-EPUB 9783-8-6980-761-4 25,95 Euro
Autor: Business Village; zusammengestellt von Gert Holle - 1.04.2025