Ein inspirierendes Sachbuch, Gedanken zur Wiederentdeckung des Italo-Western und was das für uns in der Gegenwart bedeuten könnte
MICHAEL STRISS
GNADE SPRICHT GOTT – AMEN MEIN COLT
Motive, Symbolik und religiöse Bezüge im Italowestern
672 Seiten, 15 x 22 cm, gebunden mit Fadenheftung
ISBN 978-3-96317-123-9 (Print)
39,00 € (Print)
ISBN 978-3-96317-620-3 (ePDF)
31,00 € (ePDF)
© Büchner-Verlag, Marburg, erschienen am 27. Juni 2018.
(Der Beitrag wurde am 18.07.2018 in GlaubeAktuell veröffentlicht - das Interview mit Wolfgang Luley hat Gert Holle am 22. September 2018 geführt und wurde am 9.10.2018 auf GlaubeAktuell dem Beitrag hinzugefügt).
Gert Holle, Herausgeber von GlaubeAktuell, im Gespräch mit dem Theologen und Cineasten Wolfgang Luley über das Buch „Gnade spricht Gott – Amen mein Colt. Motive, Symbolik und religiöse Bezüge im Italowestern“ von Michael Striss, Büchner.Verlag: Marburg 2018
Wolfgang Luley, Theologe und seit über 25 Jahren zuständig für den Lizenzankauf von Filmen im Katholischen Filmwerk in Frankfurt/M., ist leidenschaftlicher Cineast. Seine Diplomarbeit schrieb er Mitte der achtziger Jahre über das Werk des sowjetischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij. 1986 gründete er mit einigen Gleichgesinnten das kommunale Kino „Die Filminsel“ im hessischen Biblis, dem er bis heute verbunden ist. 1993 war er Ko-Autor von „Religion im Film – ein Lexikon mit Kurzkritiken und Stichworten zu 1200 Kinofilmen“. Als Ko-Herausgeber fungierte er u.a. bei „Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahre Kinogeschichte“, das 1995 herauskam. Im November 2017 erschien unter seiner Mitwirkung „Sinnfragen des Lebens im Film. Ein Lexikon zu Religion im Film mit 1500 Kurzkritiken.“ In zahlreichen Fachartikeln und Booklets stellte er seine Fachkenntnis zum Genre „Italo-Western“ einem breiten Publikum zur Verfügung. Luley achtet in seinen Beiträgen stets auf die den modernen Menschen umtreibenden Fragestellungen, seien es persönliche Entwicklungsperspektiven, die Gestaltung gesellschaftlicher Umbrüche oder die Suche nach Sinn und Wahrheit im Leben und in der Religion. „Der Western ist mehr als Peng Peng und der Italowestern ist wesentlich mehr als die Werke von Leone (Dollar-Trilogie, „Spiel mir das Lied vom Tod“), von Sergio Corbucci („Leichen pflastern seinen Weg“) oder die Spencer-Hill-Filme“, sagte Wolfgang Luley voller Überzeugung in einem Gespräch, das ich mit ihm über das gerade im Marburger Büchner-Verlag erschienene Buch „Gnade spricht Gott – Amen mein Colt“ führen konnte. In dem 670-Seiten umfassenden Buch befasst sich der evangelische Pfarrer Michael Striss mit Motiven, Symbolik und religiösen Bezügen im Italo-Western.
Hinweis: Für Experten und Leser, die tiefer in die Materie eintauchen wollen, haben wir in den Text redaktionelle Ergänzungen (r. E.) eingefügt. Zusätzlich hat Wolfgang Luley am Ende des Artikels einige Hinweise auf weiterführende Literatur gegeben.
Lieber Wolfgang, dieses Buch hätte eigentlich auch Dein Buch sein können?
Eines vorweg: Das Buch von Michael Striss ist in meinen Augen ein Opus Magnum und hat seinen Platz als herausragendes Western-Filmbuch sicher. Auch wenn ich persönlich in diesem Buch öfter und auch sehr wertschätzend zitiert werde, so hätte ich doch kaum die Zeit und Energie zu einer solchen ungeheuren Fleißarbeit aufbringen können. In jeder Zeile sind die Leidenschaft und der Spaß des Autors zu spüren. „Gnade spricht Gott – Amen mein Colt“ ist eine gelungene Mischung aus einer Einführung in das Genre, aus theologischem Fachbuch und dem Werk eines Fans, der verständlich formuliert, dabei aber immer auch eine kritische und selbstironische Distanz zu seinem Thema wahrt. Ich freue mich darüber, dass meine langjährigen Forschungen zu religiösen Motiven im Film, respektive im US- und im Italo-Western, nun so kenntnis- wie detailreich vertieft, ergänzt und fortgeführt worden sind.
Wann und wie bist Du auf das Genre „Italo-Western“ aufmerksam geworden?
Wenn man Western liebt, stößt man unweigerlich auch irgendwann auf den Italo-Western. Für mich gehörte das erste Sehen von Sergio Corbuccis „Leichen pflastern seinen Weg“ zu meinen prägendsten filmischen Initiationserlebnissen. Ich erinnere mich noch sehr gut: Es war eine Spätvorstellung im Atlantis-Kino in Mannheim, Mitte der 80er Jahre - das illusionslose Ende, der Tod des stummen Helden, dies machte einen großen und verstörenden Eindruck auf mich. Irgendwann später habe ich aus einem Interview erfahren, dass genau dies die Absicht des Regisseurs war. Silence, der Protagonist des Films wurde Christus ähnlich getötet. Nach Corbucci handelte es sich um „das totale Opfer“, das die Gewalttätigkeit verdammt. Diesen Film hat er Martin Luther King, Che Guevara, Bob Kennedy und all jenen gewidmet, die ermordet worden sind und deren Tod in jedem Fall zu etwas gedient habe, und wenn nur dazu, die Gewalttätigkeit zu verdammen.
Lass uns über „Gnade spricht Gott“ sprechen. Um was geht es konkret?
In acht Kapiteln auf 670-Seiten erschließt uns Michael Striss, evangelischer Pfarrer im Rheinland, Motive, Symbolik und religiösen Bezügen eines europäischen Genres, dessen Entstehung und Charakteristik er in einer filmwissenschaftlich fundierten Einleitung beschreibt. Ein Kapitel über das sich fast immer gleichende Ensemble von Geistlichen, Gesetzeshütern, Kopfgeldjägern, Ärzten und Bestattern darf dabei ebenso wenig fehlen, wie natürlich ein Blick auf die Hauptakteure: den relativ Guten, den teuflisch Guten und den unberechenbaren Dritten. Die Sicht auf Kulissen, Städte, Dörfer, Sakralbauten und Friedhöfe sowie die Requisiten und Rituale wie Waffen, Kleidung, Musikinstrumente, Spieluhren oder Glücksspiel, Völlerei und Trägheit liefert interessante Zusatzinformationen. Ein Höhepunkt des Buches ist ganz ohne Frage das sechste Kapitel, in dem Striss als Theologe explizit christliche Themen unter die Lupe nimmt: Die Rolle der Heiligen Schrift, Erlösergestalten, Gebete, Sakramente und Kasualien sowie weitere Symbole und Riten. Eine weitere Stärke: die Darstellung von Konfliktfeldern im Italo-Western: Familienprobleme, Gier nach Gold und Geld, Rache und Vergeltung, Klassenkampf und Revolution dienen als Identifikationsfläche für das allzu Menschliche.
Für wen ist das Buch geeignet?
Keiner der dieses Buch liest, wird es bereuen. Es macht Lust, sich zumindest einige Filme des Genres anzuschauen. Es schließt eine Lücke und stellt dabei in einmaliger Weise die Vielfalt und die ernsthaften inhaltlichen Aspekte und Themen des Genres zumindest im deutschsprachigen Raum dar. Was die Erforschung religiöser Motive im Film, respektive im Italo-Western, anbelangt, bringt es Interessierte ein gutes Stück weiter.
Das heißt: Du hast bei der Lektüre auch noch einiges gelernt?
Das Buch verbindet eine sehr detailreiche Aufzählung von zentralen und typischen Merkmalen und Topoi des Genres mit einer kenntnisreichen Analyse der wesentlichen Filme und Motive. Es bietet damit einen nahezu perfekten Einstieg für den Neuling wie darüber hinaus gewinnbringende Interpretationen für den Kenner. Auch für mich, der sich mit diesem Themenkreis ausführlich beschäftigt hat, ist dieses Buch eine große Bereicherung. Obwohl ich seit Beginn der 90er-Jahre zum Thema forsche (redaktionelle Erläuterung (r. E.): u.a. Mitarbeit beim Projekt RELIGION IM FILM, vgl. http://film.katholisch.de/), sind mir diverse Motive wie z.B. Jakob-Esau (r. E.: Seite 293) bis dahin nicht aufgefallen. Mir sind auch die politischen bzw. geschichtlichen Bezüge, z.B. auf Konzentrationslager (r. E.: Seiten 87 und 232), erst durch die Lektüre des Buches stärker bewusst geworden. Die Aufzählungen der biblischen Motive (r. E.: Seiten 493ff.) war für mch ebenfalls sehr bereichernd. Der selbstironische und humorvolle Umgang mit dem Thema ist ein Vorzug, er erhöht deutlich den Spaßfaktor der Lektüre (r. E.: vgl. Seiten 408 oder 554).
Apropos biblische Motive: Es gibt ja durchaus auch die Meinung, dass man mit einer religiösen Perspektive den Italo-Western überinterpretieren würde?
Man muss sicherlich nicht jeden Telegrafenmast in „Django“ als Kreuz deuten, aber als ein möglicher Deutungsansatz unter anderen ist es durchaus legitim. Dass es grundsätzlich fruchtbar und erkenntnisreich ist, religiöse Motive im Genre näher zu beleuchten, allein das ist eine bemerkenswerte Leistung des vorliegenden Buches. Natürlich ist die theologische Perspektive auf das Genre nur eine unter vielen Möglichen, aber eine, wie ich meine, durchaus zulässige und angebrachte. Michael Striss hat dankenswerter Weise 480 Italo-Western gesichtet – das sind gut 2/3 der Produktionen des Genres – und mit seinen Analysen und Hinweisen verdeutlicht, dass das Thema „Religiöse Motive im Italo-Western“ mehr als eine Randerscheinung ist. Dem muss man nicht zustimmen, aber ich denke, dass so manchem Kenner neue Zugänge eröffnet werden und bisherige Genre-„Abstinenzler“ animiert werden können, dem Genre eine Chance zu geben.
Nicht jedem ist das Genre Italo-Western vertraut. Vielleicht kannst Du unseren Leserinnen und Lesern einen kleinen Einblick gewähren ...
Der Italo-Western ist ein genuin europäisches Genre, das sich am US-Spät-Western – ich denke hier an „Sacramento“ oder an „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ - orientiert, und das mit ins Leben gerufen wurde von den Karl-May-Western in Deutschland. Beide sind zu Beginn der 60er-Jahre entstanden. Der Höhepunkt des Genres liegt in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Anfang der 70er-Jahre wandelte sich das Genre dann u.a. mit den Spencer/Hill- Filme wie „Vier Fäuste für ein Halleluja“ ins Komödiantische, u.a. weil die harten Werke an Faszination verloren. Insgesamt, von einigen selten Ausreißern abgesehen - „Djangos Rückkehr“, 1987 -, ist das Genre zeitlich begrenzbar auf die Dekade von 1964 bis 1977, mit dem letzten Höhe- und Endpunkt des Genres „Keoma“ 1976, dessen Konterfei (r. E.: Django Franco Nero) – völlig zurecht – auf dem Titel des Buches zu sehen ist. Neben den Titel-Anti-Helden wurden vor allem die Zuspitzung auf zwei Antriebsfedern der Protagonisten - Rache und Gier - sowie die Bedeutung des Soundtracks und der Filmkulisse zu Spezifika des Genres. Weiter tragen englischsprachige Pseudonyme der Schöpfer (r. E.: Bob Robertson/Sergio Leone, in Deutschland bei der Erstaufführung u.a. als Georg Schock [!] geführt) und der Darsteller John Wells/Gian Maria Volonté) zum weltweiten Erfolg, der am größten in Europa und Japan war, bei. Die Filme sollten als US-Produkte gelten, da sich US-Western in Italien und Spanien großer Beliebtheit erfreuten (r. E.: Imitation), Filme mit englischer Besetzung leichter verwertbar sind (r. E.: Internationalisierung) und in der Wahl der Pseudonyme die parodistische Absicht des Italowestern erkennbar wird (r. E.: Ironie). Sergio Leone sagte einmal zum Unterschied zwischen US- und Italo-Western:
„Ford (r. E. Regisseur John Ford) war ein Optimist, ich bin ein Pessimist. Die Personen von Ford blicken stets am Ende, wenn sie zum Fenster hinausschauen, in eine strahlende Zukunft, während die meinen, wenn sie das Fenster öffnen, immer Angst haben, eine Kugel zwischen die Augen zu bekommen“ ( r. E.: zitiert nach Fornari, Oreste de: Sergio Leone, München 1984, Seite 21).
Die Geburt des Genres kann man auf den 27.08.1964 datieren. An diesem Tag wurde Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar“ für eine Woche in einem kleinen Hinterhof-Kino in Florenz aufgeführt. Clint Eastwood schaffte mit der Rolle des stoischen, wortkargen Einzelgängers Joe den internationalen Durchbruch. Er war allerdings nicht die erste Wahl: Leones Favorit war Henry Fonda, dessen Agent lehnte jedoch ab. Dann wurden noch James Coburn, Henry Silva, Charles Bronson, Rory Calhoun, Rod Cameron und Richard Harrison angefragt - sie wollten zu viel Geld oder hatten andere Engagements. Schließlich wurde von einer US-Agentur in Rom Clint Eastwood aus der Serie US-Western-Serie „Rawhide“ empfohlen. Die Acht-Besetzung (r. E.: !) Eastwood nahm an, weil er keine anderen Angebote vorliegen hatte, und es durchaus reizvoll fand, diese Rolle, die er mitgestalten wollte, in einem europäischen Western zu spielen. Eastwoods Skepsis zum damaligen US-Western: „Ein typischer Western verlief zu diesem Zeitpunkt ungefähr so: Held reitet in Stadt. Sieht Lehrerin auf Schulbank und Mann, der Pferd auspeitscht. Mischt sich ein. Verprügelt Mann, der Pferd auspeitscht. Lehrerin sieht zu. Man weiß, dass zwei Figuren zusammenfinden werden und dass es nicht der Held und das Pferd sein wird.“ - Auch mit dem Salär war Clint einverstanden, obwohl Eastwood vorher weder mit Leone noch den Produzenten direkt Kontakt hatte.
Sicher gibt es Western-Fans, denen der Italo-Western suspekt ist: Wegen dessen Brutalität und Sexismus zum Beispiel. Dies sind auch wesentliche Topoi – das Genre wird dennoch bis in unser Tage vielfach zu geringschätzig betrachtet, aber es ist wesentlich vielfältiger und differenzierter als allgemein angenommen wird. Der Italo-Western ist ein einmaliges, unwiederholbares, aber auch abgeschlossenes Genre.
„Gnade spricht Gott – Amen mein Colt“ ist jetzt schon einige Monate auf dem Markt. Wie wurde das Buch bislang von Kritikern aufgenommen?
Nicht alle interessanten Filmbücher werden heutzutage noch öffentlich gewürdigt. Die bisherigen Rezensionen zu Striss' Buch lassen – trotz unterschiedlicher Auffassungen und Ansätze der jeweiligen Autoren – insgesamt eine große Wertschätzung dieses Werkes erkennen. Stellvertretend möchte ich das Fazit eines Genrekenners anführen, der sich als Atheist outet und dessen Bewertung des Buches umso höher einzuschätzen ist: „… Am spannendsten sind Striss’ Ausführungen zu „spezifisch christlichen Themen und Traditionen“ über mehr als 100 Seiten. Hier schaffen seine theologischen Kenntnisse einen Mehrwert, der „Gnade spricht Gott – Amen mein Colt“ zu einer lesenswerten Lektüre macht.“
(r. E.: https://forum.spaghetti-western.net/t/buch-gnade-spricht-gott-michael-striss/4682/8)
Es gibt bisher erst eine Rezension auf amazon (r. E.: 03.10.2018). Diese zeugt von großem Sachverstand und einem klarem analytischen Blick, auch hier beinhaltet das Fazit eine exzellente Einschätzung:
„Ein Wälzer, den man nicht so einfach umpusten kann, den man aber unbedingt lesen sollte. Abgerundet durch hervorragende Register und farbige Abbildungen, wenn auch nicht im großen Hochglanzformat. Aber ein glänzendes Werk liegt vor!“
Noch ein dritter und letzter Beleg: „Striss schafft etwas Seltenes: in einem doch recht populären Genre eine bisher nicht in dieser Ausprägung beschriebene Facette aufzutun. Das ist sehr spannend, gerade wenn man bei erneutem Ansehen vieler dieser (Meister-)Werke mit noch aufmerksameren, ja geläuterten Augen zuschaut ...
Für Liebhaber des Italowestern, aber auch Interessierte am Spannungsfeld Film/Theologie ist GNADE SPRICHT GOTT – AMEN MEIN COLT als absolute Empfehlung zu sehen. Ein Buch, das wohl bald als Standard bildlicher Untersuchungen von Motivik und Symbolik im Spielfilm gelten wird. Amen.“
(r. E.: https://blog-fluxkompensator.de/gnade-spricht-gott-amen-mein-colt-buechner-verlag-buchvorstellung)
Mit dem Genre Italo-Western ging die Kritik im Lauf der Jahre durchaus nicht immer so wohlwollend um …
Der Italowestern popularisiert nicht nur die kinematografischen Aufbrüche, sondern auch die gesellschaftlichen Umbrüche der »Sixties« wie kaum ein anderes Genre. Man denke nur an den bekannten Slogan „Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll“. Der Italo-Western repräsentiert somit auch wichtige Elemente des Zeitgeistes: Diese Jahre waren die Ära der Befreiung, eine Dekade der Widersprüche und der Widerstände, der Polarisierungen und der Proteste. Jürgen Müller spricht in „Die Filme der 60er“ (r. E.: Seite 15, erschienen in Köln 2004) von „der Opposition gegen eine restaurative Kultur und eine repressive gesellschaftliche Wirklichkeit“. In „Kinoklassiker. 100 Meilensteine der Filmgeschichte“ heißt es: „Ein hektisches, an Ereignissen überreiches Jahrzehnt voller Hoffnungen, Aufruhr und Ekstasen, das dem Film einen vielfarbigen Facettenreichtum beschert, Flower Power und Popkultur, Rolling Stones und Che Guevara, Revolutionen und Kriege, Studentenunruhen und Utopien durchdringen auch die schillernden Bilder der Leinwand“ (r. E.: Heinzlmeier, Adolf / Schulz, Berndt: Kinoklassiker. 100 Meilensteine der Filmgeschichte, Hamburg / Zürich 1986, Seite 146).
In den unangepassten und exaltierten Protagonisten finden viele, u. a. die 68er-Bewegung, Identifikationsfiguren. Einige der signifikanten Beispiele sind: Djangos Coolness, Ringos Artistik, Sartanas Dandytum, Cuchillos Schlitzohrigkeit, der Humor von Spencer/Hill: „Und endlich, endlich versöhnt ein Kinogenre Kindsköpfe, Kinonormalverbraucher und Revolutionäre! Der Italowestern als verkapptes Revolutionsmodell und -anleitung …“ (r. E.: nachzulesen in Radevagen, Til: Die sechziger Jahre – Zehn Jahre im Kino, in: Siepmann, Eckhard u. a. (Red.): CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Ein BilderLeseBuch, Berlin 2. Aufl. 1984, Seiten 65-69, hier: Seite 69).
Wobei diese Identifikationsfiguren einen sehr ambivalenten Charakter haben. So urteilt beispielsweise der deutsche Psychoanalytiker Bernd Nitzschke über die Moral des Italowestern-Helden: „Er ist ein statischer Held, der aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet, sobald er seinen Job erledigt hat … Also agiert er seine traumatischen Erinnerungen in einer endlosen Folge von Racheakten aus … Das Böse siegt über das Gute. Also bekennt er sich zur Gemeinheit“. (r. E.: Nitzschke, Bernd: Männerhelden – die einsamen Rächer. Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern, online: http://www.werkblatt.at/nitzschke/textmaennerhelden.htm).
Ein exzellenter Kenner des Kinos und des Genres schrieb zum Unterschied zwischen US- und Italowestern-Helden bereits in den 70ern: „Der amerikanische Westernheld gewann durch die Gewalt als Ausdruck einer Bewährung seine Integrität und schließlich seine Integration, der Italowesternheld (und sein faszinierter Zuschauer) müssen ihre Integrität aufgeben, um zum Ziel zu kommen“ (r. E.: siehe der Beitrag „Italowestern“, in: Seeßlen, Georg / Kling, Bernt: Unterhaltung: Lexikon zur populären Kultur. Western – Science Fiction – Horror – Crime – Abenteuer, Reinbek bei Hamburg 1977, Seiten 43-47, hier: Seite 46).
Das Genre wirkt aber auch auf den Zeitgeist zurück: Mode und Musik werden beeinflusst, der Soundtrack von Spiel mir das Lied vom Tod ist in Discos zu hören, jener von „Zwei glorreiche Halunken“ führt die internationalen Charts an; negative Aus-Wirkungen werden ebenso deutlich: „Mit dem Ende des Italo-Western starb auch das Vorstadtkino“, bedauerte Thomas Bertram in seiner Replik auf das Kino der fünfziger und sechziger Jahre. (r. E.: Bertram, Thomas: Im Palast der blutigen Stiefel, in: Ders. (Hg.): Der rote Korsar. Traumwelt Kino der fünfziger und sechziger Jahre, Essen 1998, Seiten 96-109, hier: Seite 107).
Schon in den 50er-Jahren wandten französische Kritiker wie Godard, Rivette und Truffaut, aus denen später bedeutende Regisseure werden sollten, die Autoren-Theorie auf den US-Western an. Eine Dekade später wurde auch der Italowestern unter dieser Perspektive betrachtet. Es gibt dabei ein weites Spektrum an – zum Teil konträren – Reaktionen. Manche bewerten das auch als Spaghetti-Western bezeichnete Genre negativ: es sei ein reines Kommerzprodukt und unpolitisch. So schrieb Friedemann Hahn 1973 in seinem Buch „Der Italo-Western“: „Die politische Bedeutung eines Italo-Western liegt … im konsequenten Sichtbarmachen seiner Kommerzialität, seiner Infantilität und seiner Brutalität“ (r. E.: Hahn, Friedemann: Der Italo-Western, Berlin 1973, Seite 39). Und zwei Jahre zuvor urteilte Horst Königstein, das Genre habe das Ziel, „ ,Massenbedürfnisse‘ zu befriedigen, die als solche ökonomisch vermittelte Herrschaftsverhältnisse sind“ (r. E.: Königstein, Horst: Es war einmal ein Westen: Stereotyp und Bewußtsein. Wie sich marktkonforme Ästhetik selber zum Thema machen kann, und was der Italo-Western damit zu tun hat, in: Ehmer, Hermann K. (Hg.): Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewußtseinsindustrie, Köln 1971, 299-333, hier: Seite 301) und „das Genre zeigt sich entideologisiert bis auf die Ideologie, die es hervorbringt“ (r. E.: Seite 324).
Anderen erschließen sich nicht sofort die Qualitäten selbst der großen Werke. So äußert sich Wim Wenders in einer Rezension aus dem Jahre 1969 über „Spiel mir das Lied vom Tod“: „Vom Traum zum Trauma. Der fürchterliche Western … Dieser hier ist der letztmögliche, das Ende eines Metiers. Dieser ist tödlich …“ (r. E.: in Filmkritik, 11/69). Leo Schönecker fragte im gleichen Jahr: Ist das Genre tatsächlich nur eine „sadistisch vergröberte Plagiat-Gattung“? (r. E.: Schönecker, Leo: Schizophrenie als Programm für Italiens Filmerfolge? in: film-dienst 21/69). Oder handelt es sich gar um einen „Massenbetrug“? wie Wolfram Schütte 1971 mutmaßte. (r. E.: Schütte, Wolfram: Massenbetrug: Der Italowestern, in: Prokop, Dieter (Hg.): Materialien zu einer Theorie des Kinos. Ästhetik, Soziologie, Politik, Frankfurt/M. 1971, Seiten 499-503, hier: Seite 499)? Positiver sieht es Werner Kliess 1969. Er entdeckt im Italo-Western ein „Kino, das frei macht“ (r. E.: Kliess, Werner: Kino, das frei macht. Gedanken zum Italo-Western, in: Film 1969, Seiten 74-84, hier: Seite 74). Und Hans-Peter Kochenrath freut sich 1970, dass „dieses kommerzielle Genre dabei so frei, originell und kühn mit den vorgefundenen Elementen umgeht“ (r. E.: Kochenrath, Hans-Peter: Der namenlose Held steht von den Toten auf. Italowestern lockt 10 % aller Kinobesucher, in: Kölner Stadtanzeiger v. 22./23.08.1970, Seite 37).
Die gesellschaftskritischen Elemente werden in die 60er-Jahre-Gegenwart übertragen, denn, so drückt sich Georg Seeßlen aus: „der Italowestern reflektiert Umstände und Bedingungen, unter denen er produziert wird“ (r. E.: siehe der Beitrag „Italowestern“, in: Seeßlen, Georg / Kling, Bernt: Unterhaltung: Lexikon zur populären Kultur. Western – Science Fiction – Horror – Crime – Abenteuer, Reinbek bei Hamburg 1977, hier Seite 45). So sind die politischen Werke als Allegorien auf gesellschaftliche Missstände wie die Probleme und Rückständigkeit Süditaliens oder wirtschaftliche und soziale Benachteiligungen von Menschen in Entwicklungsländern und Kriege wie in Vietnam anzusehen. Sie werden als Ausdruck der Solidarität mit den Unterprivilegierten oder als Werke, die den Imperialismus der USA anklagen, interpretiert. Außerdem, so die Einschätzung damals, impliziere die Gewalt-Ästhetisierung nicht deren Legitimation, denn besonders in den Klassikern wirke die Darstellung der Funktion von Gewalt auch entlarvend.
In späteren Interpretationen rückt die Gewaltdarstellung in den Fokus. Im Jahr 2001 sieht Arno Widmann in seinem Beitrag „Rückkehr in die Menschlichkeit“ in der Berliner Zeitung in der Gewaltdarstellung des Genres einen Reflex auf die Ereignisse in den 60er-Jahren, denn „die Italo-Western waren nur der ästhetische Kommentar zur in der wirklichen Welt immer mächtiger werdenden Gewalt“(r. E.: Arno Widmann in seinem Beitrag „Rückkehr in die Menschlichkeit, in: Berliner Zeitung v. 16.02.2001, online: http://www.freilassung.de/presse/opec/bz16201a.htm).
Fünf Jahre zuvor stellte der Film- und Medienwissenschaftler Werner Barg die Frage: „Antwortet dieser Mythos der Gewalt, wie ihn Leones Western präsentieren, damit nicht auch auf den gesellschaftlichen Modernisierungsschub am Ende der sechziger Jahre, auf dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft, in der eine Masse von Single-Angestellten unter dem Druck des Leistungssystems arbeitet?“ (r. E.: Barg, Werner C.: Die Mythologie der Gewalt – Sergio Leones Kinomärchen, in: Ders. / Plöger, Thomas (Hg.): Kino der Grausamkeit, Frankfurt/M. 1996, 9-28, hier: Seite 26)
Auch das Thema „Religion im Italo-Western“ wurde durchaus kontrovers gesehen …
In der Tat. Ich gebe einige Beispiele:
In dem bereits erwähnten Beitrag von Hans-Peter Kochenrath war 1970 zu lesen: „Ein Hauch abgestandenes Weihwasser durchweht den Italowestern. Wie ein frühmittelalterlicher Heiliger zieht Django einen Sarg hinter sich durch den Schlamm… da ‚erkennt‘ er, und die ‚Gnade‘ ereilt ihn: Mit Hilfe des Kreuzes erschießt er trotz zerquetschter Hände die Feinde. Italowestern als travestierte Heiligenlegende.“ (r. E.: Kochenrath, Hans-Peter: Der namenlose Held steht von den Toten auf. Italowestern lockt 10 % aller Kinobesucher, in: Kölner Stadtanzeiger v. 22./23.08.1970, Seite 37).
Auch später noch gab es eindeutige Zuschreibungen: „Ganz unzweifelhaft ist es auch ein Genre, das vom Katholizismus beeinflusst ist - was auch an Namen wie Hallelujah, Weihwasser Joe, Friedhof oder Trinita abzulesen ist - mit Bildern, die oft an die klassische Ikonographie erinnern, wie der Kreuzigung, dem letzten Abendmahl oder Ecce Homo.“ (r. E.: https://www.spaghetti-western.net/index.php/Einführung )
Evi Hallermeyer bezeichnet in ihrem Buch, in dem sie u.a. „Für eine Handvoll Dollar“ analysiert, Leone als „katholischen Regisseur“ und widmet dem Themenkreis „Religion und christliche Ikonografie“ ein eigenes Kapitel, dessen Fazit lautet: „… ist in diesem Film eine deutlich bejahende Einstellung bezüglich der religiösen Ordnung spürbar.“ (r. E. : Hallermeyer, Evi: Religion und christliche Ikonografie in „Per un pugno di dollari“, in: Dies.: Filme analysieren – Kulturen verstehen. Über Akira Kurosawas „Yojimbo“ und seine beiden Remakes „Per un pugno di dollari“ und „Last man standing“, Konstanz 2008, 353-364.)
Sergio Leone äußert sich ebenfalls dazu: „For example we live and breathe Roman Catholicism, even if we don't believe all of it." (r. E.. Wir leben und atmen den römischen Katholizismus, auch wenn wir nicht an alles glauben“), Frayling, Christopher: Interviews - The director: Sergio Leone, in: Ders., Once upon a time in Italy – The films of Sergio Leone, 2008, 75).
Was kann die Beschäftigung mit dem Genre Italo-Western heutigen Christen geben?
Auf den ersten Blick nicht so viel, aber wenn man sich intensiver damit beschäftigt, kommen diverse Optionen für eine sinnvolle Beschäftigung in den Fokus: Kierkegaard stellte einmal treffend fest: „Das Leben wird nach vorne gelebt, aber rückwärts verstanden.“ Auch wenn uns die Eroberung des Wilden Westens in einer speziell europäischen Form filmisch aufbereitet wird, so können wir exemplarisch an einigen Themen den Bogen schlagen vom 19. Jahrhundert im Wilden Westen über das Jahrzehnt des Genres bis in das 21. Jahrhundert, unser Zeitalter, geprägt durch Globalisierung, Digitalisierung und Migration. Ich greife exemplarisch drei Themenkreise heraus, so wie sie Striss auch in seinem Buch darstellt:
- Rache und Vergeltung (r. E.: bzw. Schuld und Sühne, Vergebung und Versöhnung, Seiten 253-271),
- Erlösergestalten bzw Jesus-Konfigurationen (r. E.: inkl. Passionen und Opfertode, Seiten 445-491) sowie
- Familienkonstellationen, v.a. Kain-Abel-Geschichten (r. E.: Seiten 282-298).
Es gibt einen Film, dessen Originaltitel ins Deutsche übersetzt heißt „Rache ist ein Gericht, das man kalt serviert“ (r. E.: dt. Titel „Drei Amen für den Satan“). Dieser Titel steht beispielhaft für das Genre, denn Rache ist das zentrale Motiv des Genres, wobei dies sowohl in den Kontexten von Recht und Gerechtigkeit, von Schuld und Sühne und den Polen Vergeltung oder Vergebung steht. Schuld und Sühne spielt im Genre eine zentrale Rolle. Jeder Mensch macht sich schuldig. Der Umgang damit ist entscheidend für die Reifung einer Person.
Mit Erlösergestalten und Jesus-Imitationen in den unterschiedlichsten Ausprägungen ist das Genre wahrlich reichlich gesegnet. Damit hat man schon einen etwas anderen Zugang zur Frage, wer für uns oder für mich ganz persönlich Jesus von Nazareth ist. Ich möchte an ein kurzes, aber sehr treffendes Gedicht von Dorothee Sölle erinnern:
Vergleiche ihn ruhig
Vergleiche ihn ruhig mit anderen Größen
Sokrates
Rosa Luxemburg
Gandhi
er hält das aus
besser ist allerdings
du vergleichst ihn
mit dir.
Familien mit Gottähnlichen Herrschern - über eine Ranch, über eine Stadt, über ein Imperium etc. -, Vater-Sohn- sowie Brudergeschichten sind ebenfalls ein oft benutztes Motiv, Kain-Abel sticht dabei hervor: der gute und der böse Bruder, good and bad guy, was man aber auch auf die guten und die bösen Seiten (r. E.: Licht und Schatten) in einer Person beziehen kann. Nicht zu vergessen, das zentrale Ereignis des 19.Jahrhunderts in den USA, was zur Stärkung des Bundes und der Beibehaltung der Union führte und gleichzeitig immer auch ein Trauma blieb: der Bürgerkrieg und dessen Verlauf spielen immer eine Rolle, und darin spiegelt sich der individuelle Kain-Abel-Konflikt kollektiv bzw. global als Bruderkrieg zwischen Nord- (r. E.: Gegner der Sklaverei) und Südstaaten (r. E.: Befürworter der Sklaverei). Jeder hat zumindest eine Herkunftsfamilie, daher ist Familie eines der existentiellen Lebensthemen. Dazu bietet das Genre mehr als genügend dysfunktionale Familienkonstellationen, an denen man sich biografisch abarbeiten kann. Bei Filminterpretationen können anhand vieler Filme die zeitlosen Chancen und Risiken des Systems Familie differenziert analysiert werden.
Weitere Motive wie z.B. die Auslegung der Bibel, Rassismus oder Geldgier lassen sich ebenfalls fast 1:1 auf die Gegenwart übertragen. Man könnte mit mindestens 50 Filmen des Genres über die Möglichkeit ins Gespräch zu kommen, was wir aus den Italo-Western lernen können. Genug, um damit hilfreiche Anregungen für ein gelingendes Christ sein zu erhalten. Vielleicht hilft gerade dieses zum großen Teil apokalyptische Genre, unserer Zeit einen Spiegel vorzuhalten. Gerade im Zeitalter des hemmungslosen Spätkapitalismus, des Rassismus und Populismus, sowie Gewalt, Terror und Krieg in der ganzen Welt ist eine Besinnung auf Toleranz und Gewaltlosigkeit sowie auf die Achtung der Menschenwürde unverzichtbar und verheißungsvoll. Man kann also durchaus mit dem Italo-Western eine Theologie ex negativo betreiben. Das Genre visualisiert, sozusagen parabelhaft, wozu es führt, wenn menschliche Abgründe die Oberhand gewinnen. Dazu passt, wie ich finde, ganz gut ein Zitat von Martin Luther King: „Wenn wir nicht lernen wie Brüder miteinander zu leben, werden wir als Narren untergehen!“
Der Italo-Western als moderne Lebenshilfe?
So könnte man es sehen: Jeder Zuschauer, der sich als Christ versteht, hat durch Sichtung der Filme die Möglichkeit, seinen eigenen Glauben neu zu sehen, kritisch zu reflektieren, um zu einem neuen Menschen zu werden. Nicht im Sinne des Übermenschen von Nietzsche, sondern im Sinne des Apostels Paulus. Dessen neuen Menschen zeichnen aus: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, die Bereitschaft, einander zu ertragen und einander zu vergeben.
Vor allem aber ist es die Liebe, wie sie im 1. Kor 13 beschrieben ist. Die Liebe zu einem neuen Menschen, der nicht nur weiß, dass es Gott gibt, sondern der dies auch im Alltag so lebt, dass es spürbar und erlebbar wird für die Mitmenschen und die Welt. Er muss dabei kein überirdischer Held, sondern schlicht und ergreifend nur Mensch sein und das tun, was ein Mann bzw. eine Frau tun muss: Fähig zur Selbstliebe, damit in der Lage, den Nächsten und Gott zu lieben (r. E.: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst, vgl. Mk 12,29-31 ), indem er dankbar und demütig, dabei immer gelassen und humorvoll, inspiriert von Jesu' Botschaft seinen Alltag bestreitet. Nietzsche trifft mit seiner Kritik des verfassten Christentums oft den Nagel auf den Kopf, besonders mit seinem Satz: „Die Christen müssten mir erlöster aussehen.“
Bevor ich Dich noch nach Deiner persönlichen Hitliste von Italo-Western frage, möchte ich Dich noch um ein kurzes Fazit zum Buch „Gnade spricht Gott – Amen mein Colt“ bitten.
Um es salopp zu formulieren: Was die Bibel für den gläubigen Christen ist, das wird das Werk von Striss für alle Menschen guten Willens, die sich mit dem Genre Italo-Western und dem Themenkreis religiöse Motive im Film beschäftigen. Der Western ist mehr als Peng Peng und der Italowestern ist wesentlich mehr als die Werke von Leone – u.a. die Dollar-Trilogie und „Spiel mir das Lied vom Tod“, von Sergio Corbucci (r. E.: „Leichen pflastern seinen Weg“) oder die Spencer-Hill-Filme. Keiner, der dieses Buch liest, wird es bereuen. Ich kann Striss‘ Einsichten am Ende seines Buches uneingeschränkt zustimmen: Die Tatsache, dass sich im Genre „genügend Hinweise auf ein sich durchziehendes biblisches Welt- und Menschenbild“ finden, sowie die Mahnung, wohin eine gottlose Gesellschaft führen kann und darüber hinaus „wenn nicht gar ein impliziter Ruf zur Buße, zur Umkehr“ vernommen werden kann (r. E.: Seite 574). Nach Striss lässt sich aus heutiger Sicht Folgendes sagen: „Wo vielfach die Symbole schwinden, darf man froh sein, wenn sie überhaupt noch irgendwo vorkommen – zum Beispiel in einem Italowestern“ (r. E.: Seite 580).
Lieber Wolfgang, vielen Dank für das Gespräch und die überaus wertvollen Einschätzungen! Nun noch Deine persönliche Hitliste und Literaturtipps:
1. Der Gehetzte der Sierra Madre
Mit seinem Meisterwerk in der uncut-Fassung ist Sollima ein inhaltlich durchdachter und formal bemerkenswerter Western gelungen, der zu Recht zu den besten Italo-Western zählt.
2. Leichen pflastern seinen Weg
Eine Passion im Schnee als Christus-Ikonografie: Das Paradebeispiel eines „Erlösers im Sattel“ ist der stumme Silence in Corbuccis Film.
3. Spiel mir das Lied vom Tod
Die ersten 13 Min. des Films sind das Beste, was jemals auf einer Kinoleinwand zu sehen war. Der Rest ist eine wunderbare Symbiose von US- und Italo-Western.
Plakat: Paramount
Quelle: https://www.spielfilm.de/filme/2987167/spiel-mir-das-lied-vom-tod
4. Keoma
Der Film schafft eine gelungene Synthese aus US-Spätwestern und den Topoi des Italowestern. Formal überdurchschnittlicher, gut besetzter Italowestern, bei dem sich poetische und gewalttätige Sequenzen abwechseln. Der letzte Höhepunkt des Genres.
Kino-Plakat: Adria
5. Töte Amigo
Der beste und reflektierteste politische Revolutionswestern.
Kino-Plakat: Nora
Quelle: https://www.postertreasures.com/product_info.php?language=de&info=p13567_toete-amigo.html
6. Zwei glorreiche Halunken
Leones Höhepunkt der Dollar-Trilogie – gleichzeitig ein beachtlicher Anti-Kriegs-Film.
DVD: SZ-Cinamathek
7. Tepepa
Ein in seiner uncut-Fassung in epischer Breite entwickelter Revolutionswestern, der Partei ergreift für die Revolutionäre und Unterdrückten. Inszenatorisch und darstellerisch bemerkenswert.
Kino-Plakat: Adria
Quelle: http://www.filmposter-archiv.de/filmplakat.php?id=20345
8. Töte Django
Inhaltlich wie formal ein typisches Beispiel des Italowestern: eine handwerklich gekonnt inszenierte Mixtur aus (homo)sexuellen Anspielungen, exzessiver Gewalt, zynischem Humor, religiöser Symbolik und linker Ideologie, mit einer Paraderolle für Tomas Milian.
Blu-ray: filmArt
Quelle: http://www.filmforum-bremen.de/2014/09/blu-ray-rezension-toete-django/
9. Django
Der speziell konstruierte (Held ohne Pferd & Revolver, dafür mit Sarg), spannende und brutale Italowestern erwies sich als ein überragender kommerzieller Erfolg, so dass er eine wahre Django-Titel-Flut auslöste. Der 23-jährige Franco Nero ist genial in der Titelrolle.
Kino-Plakat: Constantin
Quelle: https://ssl.ofdb.de/film/1029,Django
Einer der experimentellsten und interessantesten Genrebeiträge: Bizarr, grell, eine
ungewöhnliche Erfahrung, als hätte der Regisseur unter Drogeneinfluss gestanden.
VHS-Cover: Zenit-Video
Quelle: https://www.cinema.de/film/willkommen-in-der-hoelle,1292763.html
Literaturtipps (persönliche Auswahl)
Deutschsprachig:
- Bruckner, Ulrich P.: Für ein paar Leichen mehr. Der Italo-Western von seinen Anfängen bis heute, Berlin 2., überarbeitete Auflage 2006 (bestes deutschsprachiges Lexikon zum Genre).
- Bürgel, Matthias: Die literarischen, künstlerischen und kulturellen Quellen des Italowesterns Frankfurt/M. 2011., bes. 377-407, 408-422 (Religion im Genre).
- Heger, Christian: Essensschlachten gegen das amerikanische WASP-Ideal, in: Ders.: Die rechte und die linke Hand der Parodie. Bud Spencer, Terence Hill und ihre Filme, Marburg 2009, 79-82.
- Hallermayer, Evi: Religion und christliche Ikonografie in „Per un pugno di dollari“, in: Dies.: Filme analysieren – Kulturen verstehen. Über Akira Kurosawas „Yojimbo“ und seine beiden Remakes „Per un pugno di dollari“ und „Last man standing“, Konstanz 2008, 353-364.
- Otto, Stefan: Für eine Handvoll Dollar. Die Geburt des Italo-Western, Stuttgart 1999.
Englischsprachig
- Grant, Kevin: Chapter 3: "Relatives and Religion", in: Ders.: Any gun can play. The Essential Guide to Euro-Western, FAB Press: Godalming 2011, 129-161.
- Frayling,
Christopher: "Leone's Citations of American Westerns" (in: Once upon a time in the west), in: Ders.: Sergio Leone: Once upon a time in Italy, London 2008,
59-63.
- Hughes, Howard: Once upon a time in the italian west, The
Filmgoers’ Guide to Spaghetti-Western, London-New York 2004.
Links:
http://www.fistfulofwesterns.com (Infos zum Genre, Filmen und Personen, engl.)
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25298/1.html
https://www.spaghetti-western.net/index.php/Einf%C3%BChrung
Zwei aktuelle Literatur-Entdeckungen im Netz:
Hellinger, Christian: “Der Italo-Western - Eine Genreanalyse anhand der Filme Sergio Leones und Sergio Corbuccis“ (Diplomarbeit 2011, online: https://core.ac.uk/download/pdf/11595487.pdf)
https://www.researchgate.net/publication/236583431_Run_Man_Run_-_Geschlechtskonstruktionen_im_Italo-Western (Katharina Spiel, Bachelor-Arbeit)
Epilog - Satan der Rache
Schlussinsert (nach Gen 4,10-12): „Und der Herr sprach zu Kain“