Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2024

Von Georg Bätzing, Kirsten Fehrs und Metropolit Augoustinos von Deutschland

(c) ÖVA
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Neue Räume

"Neue Räume" lautet das Motto der Interkulturellen Woche 2024. © ÖVA/wigwam.im
"Neue Räume" lautet das Motto der Interkulturellen Woche 2024. © ÖVA/wigwam.im

 

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So beginnt der erste Artikel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, das vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, in Kraft trat. Dieser erste Satz zur Würde des Menschen bildet die Grundlage und gibt den Ton und die Richtung für alle folgenden Artikel unserer Verfassung an. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die menschliche Würde allem anderen vorangestellt im Bewusstsein dessen, woher Deutschland kam: aus der Barbarei der nationalsozialistischen Herrschaft und aus dem verheerenden Krieg mit seinen dramatischen Folgen für Europa und die ganze Welt. Das Grundgesetz spannte den Rahmen für das Entstehen neuer Räume des Zusammenlebens in der Gesellschaft und als Teil der Völkergemeinschaft: in Achtung vor dem und der jeweils anderen, in einem demokratischen Staatswesen, als Solidargemeinschaft der vielen Verschiedenen.

 

"Vielleicht haben wir unsere freiheitliche Demokratie und ihre Organe über einen zu langen Zeitraum für selbstverständlich und geradezu unerschütterlich gehalten."

 

 

Das IKW-Motiv 2024 zum Thema Rassismus. (c) ÖVA
Das IKW-Motiv 2024 zum Thema Rassismus. (c) ÖVA

75 Jahre später wissen wir, welcher Wert diesem Grundgesetz für den Ausbau der Demokratie in Deutschland durch die Jahrzehnte zukommt. Es bietet die besten Voraussetzungen für den Schutz und die Entwicklung unserer Gesellschaft. 75 Jahre später wissen wir aber auch, wohin wir niemals wieder kommen wollen, was wir niemals wieder sein wollen: ein Land, in dem eben diese Würde des Menschen für wertlos erklärt und ignoriert werden soll. Vielleicht haben wir unsere freiheitliche Demokratie und ihre Organe über einen zu langen Zeitraum für selbstverständlich und geradezu unerschütterlich gehalten.

 

Inzwischen finden rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen in Deutschland wie in vielen anderen Ländern vermehrt Zustimmung. Eine wachsende Zahl von Menschen ist bereit, sich Gruppen und Parteien anzuschließen, in denen ein völkischer Nationalismus zum Programm gehört, die freiheitliche Demokratie verachtet und eine Aushöhlung rechtsstaatlicher Strukturen angestrebt wird. Die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen wird dabei in Worten und Taten faktisch geleugnet. Davon zeugen unter anderem das gezielte Streuen von Falschnachrichten, Hassrede und Verleumdung, die versuchte Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen, die beabsichtigte Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund, rassistische und antisemitische Angriffe auf Menschen, die den Tätern nicht genehm, nicht willkommen oder einfach im Weg sind, bis hin zum Mord.

 

"Angesichts solcher Entwicklungen und mit Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen sowie die Europawahl wenden wir uns als Kirchen gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus und jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit."

 

Angesichts solcher Entwicklungen und mit Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen sowie die Europawahl wenden wir uns als Kirchen gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus und jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Für uns liegt der tiefste Grund für die Menschenwürde in der gläubigen Überzeugung, dass Gott jeden einzelnen Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat (vgl. 1. Mose 1, 27) und alle Menschen gleichermaßen liebt. Daraus leitet sich die Forderung Jesu Christi ab, allen Menschen ohne Unterschied mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen. In der vom Evangelisten Matthäus überlieferten Bergpredigt mahnt uns Jesus:

 

 

"Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!" (Mt 5,43-48)

Auch zum Thema Flucht gibt es wieder ein Motiv. Gestaltung: ÖVA / wigwam.im
Auch zum Thema Flucht gibt es wieder ein Motiv. Gestaltung: ÖVA / wigwam.im

 

 

 

Die 13. Synode der EKD hat im Dezember 2023 erklärt, dass "menschenverachtende Haltungen und Äußerungen insbesondere der rechtsextremen Kräfte innerhalb der AfD mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens in keiner Weise vereinbar sind". Sie verurteilt "insbesondere die gegen Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund, queere Menschen, Menschen mit besonderen Förderbedarfen oder Menschen mit Behinderung gerichtete Menschenfeindlichkeit von amtierenden AfD-Politiker:innen. Völkisch-nationale Gesinnungen und demokratiezersetzende Äußerungen und Verfahrensweisen weiter Teile der AfD" sieht die Synode im Gegensatz zu zentralen christlichen Inhalten und den sozialethischen Positionen der EKD1.

 

Die Deutsche Bischofskonferenz stellt in ihrer Erklärung vom 22. Februar 2024 ebenso klar: "Völkischer Nationalismus ist mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild unvereinbar. Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern, können für Christinnen und Christen daher kein Ort ihrer politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar." Sie appelliert "an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch an jene, die unseren Glauben nicht teilen, die politischen Angebote von Rechtsaußen abzulehnen und zurückzuweisen. Wer in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft leben will, kann in diesem Gedankengut keine Heimat finden. Wer Parteien wählt, die mindestens in Teilen vom Verfassungsschutz als ‚erwiesen rechtsextremistisch‘ eingeschätzt werden, der stellt sich gegen die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens und der Demokratie in unserem Land."2

 

"Mit der Interkulturellen Woche möchten wir ein Zeichen setzen für die Achtung der Menschenwürde und den Schutz von Menschenrechten. Wir wollen neue Räume der Begegnung, der Zusammenarbeit und des Vertrauens schaffen und erhalten."

 

Mit der Interkulturellen Woche möchten wir ein Zeichen setzen für die Achtung der Menschenwürde und den Schutz von Menschenrechten. Wir wollen neue Räume der Begegnung, der Zusammenarbeit und des Vertrauens schaffen und erhalten. Räume, wo jene Haltung, für die so viele Menschen derzeit mit Engagement auf die Straßen gehen, im Miteinander sichtbar wird: die Achtung vor jedem anderen Menschen und die Wertschätzung der Vielfalt. In einer Zeit vieler Konflikte, Kriege und gewaltsamer Auseinandersetzungen an den Krisenherden der Welt schafft die Interkulturelle Woche neue Räume der Verbundenheit und der Ermutigung.

 

 

Die IKW ruft dazu auf, neue (und bestehende) Räume zu öffnen, zu zeigen, zu schaffen - aber auch zu schützen und zu verteidigen. Gestaltung: Annika Huskamp (c) ÖVA
Die IKW ruft dazu auf, neue (und bestehende) Räume zu öffnen, zu zeigen, zu schaffen - aber auch zu schützen und zu verteidigen. Gestaltung: Annika Huskamp (c) ÖVA

 

Unser Gemeinwesen lebt davon, dass wir als Menschen zugleich Mitmenschen sind und dass wir füreinander Verantwortung übernehmen. Als Kain in der biblischen Erzählung vom ersten Mord der Menschheitsgeschichte seinen Bruder Abel erschlagen hat und Gott ihn nach dem Verbleib seines Bruders fragt, flüchtet Kain in eine Lüge: „Ich weiß es nicht.“ Und er fragt zurück: "Bin ich der Hüter meines Bruders?" (1. Mose 4,9) Genau das sind wir: Hüter und Hüterinnen unserer Geschwister, unserer nahen oder fernen Nächsten. Demokratie ist keine Veranstaltung für Individualisten, sondern sie hat die Zukunft aller im Blick.

 

"Deshalb ist es unsere Pflicht, uns auf jede mögliche Weise schützend vor die Menschen zu stellen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres gesellschaftlichen Engagements von rechtsextremen Gruppen und Parteien bedroht, verunglimpft, angegriffen und verfolgt werden."

 

Deshalb ist es unsere Pflicht, uns auf jede mögliche Weise schützend vor die Menschen zu stellen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres gesellschaftlichen Engagements von rechtsextremen Gruppen und Parteien bedroht, verunglimpft, angegriffen und verfolgt werden. Und es ist ebenso unsere Pflicht, nach wie vor Menschen bei uns aufzunehmen, die zu uns kommen, weil sie vor Krieg und Elend fliehen müssen. Ihre Würde ist genauso unantastbar wie die aller anderen. Sie brauchen Schutz und Unterstützung.

 

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in unserem Land vielfältige Erfahrungen gesammelt, wie sich unsere Einwanderungsgesellschaft friedlich weiterentwickelt hat. Dabei gehören konstruktive Auseinandersetzungen in Konflikten und Aushandlungsprozessen unweigerlich dazu. Die Sorgen der Menschen angesichts vieler Fragen, die mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen einhergehen, können, wollen und werden wir nicht ignorieren. Wir möchten vielmehr Räume öffnen, wo Menschen einander wahrnehmen und sich gegenseitig zuhören. Wo wir uns ins Gesicht sehen können und uns unsere Geschichte erzählen. Das ist das Anliegen, das wir als Kirchen mit der Interkulturellen Woche verfolgen.

Wir danken den unzähligen Menschen, die die Idee der Interkulturellen Woche aufgreifen und durch ihren persönlichen Einsatz vor Ort in die Tat umsetzen. Lassen Sie uns gemeinsam neue Räume schaffen, in denen es möglich ist, die eigene Verunsicherung, die Angst und die Trauer, die Menschen in sich tragen, zu äußern. Räume, in denen sie auf Empathie treffen, und Stärkung, ja, Heilung erfahren. Räume, in denen wir lernen, einander zu Hüterinnen und Hütern zu werden, um als solche füreinander und für andere da zu sein.

 

Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und extremer Rechter. Beschluss der Synode der EKD, 5.12.23 / 14-Beschluss_zur_Auseinandersetzung_mit_gruppenbezogener_Menschenfeindlichkeit_und_extremer_Rechter.pdf (ekd.de).

 
2 Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar - Erklärung der deutschen Bischöfe, 22.2.2024 / 2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf (dbk.de).