Angedacht: Sensibel, offen, sorgfältig

Foto: canva.com
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Angedacht: Sensibel, offen und sorgfältig – Von und mit Gert Holle

 

Am Morgen wird über den Chef gelästert oder übers Wetter geschimpft. Beim Treffen mit Bekannten spricht jeder erstmal darüber, was schlecht läuft. Wir alle kennen unzählige Situationen, in denen gejammert, genörgelt und geschimpft wird. Die Preise. Die Politiker. Die allgemeine Lage.  Dabei machen wir uns nicht bewusst, was lästern, jammern und nörgeln eigentlich mit uns, mit unserer Gesundheit, unserem Wohlbefinden, unserer Energie und unserer Begeisterungsfähigkeit machen. Negative Denkmuster tun uns gar nicht gut. Sie rufen Stress und schlechte Energie hervor. Und sie haben negative Auswirkungen auf Körper, Geist, unsere Beziehungen und beruflichen Erfolg. Der im Oktober 2020 verstorbene Staatsrechtler und Politiker Martin Kriele war der Überzeugung, dass alle Gerechtigkeit mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit beginnt. Doch längst gibt es die eine, von Allen geteilte Wirklichkeit nicht mehr. Allzu oft verharren wir in unserem eigenen Gedankengebäude, in unseren „Blasen“, und sind nicht bereit oder willens, uns auf Sichtweisen der „Anderen“ einzulassen. Vielleicht deswegen auch nicht, weil wir zu häufig die Erfahrung gemacht haben, dass sich oft derjenige durchsetzt, der polarisiert und diffamiert, Fakten ignoriert, verleugnet, verdreht oder gar zur Gewalt aufruft. Dann geht es nicht mehr um Argumente, sondern um Befindlichkeiten wie Hass, Wut und Angst. – Angst, wer kennt sie nicht? Irgendwann, irgendwo. Aber: wovor? Meistens wissen wir das gar nicht. Es gibt so etwas wie unsere „Grund-Angst“, eine – wie Psychologen sagen – „objektlose Angst“. Und die wird ausgenutzt. Immer wieder. Schamlos. Wir werden beunruhigt. Von vielen Seiten. Und unsere Schwächen werden missbraucht. Deshalb suchen wir nach einem Halt in einer haltlosen Welt. Nach Antworten, wenn so Viele sprachlos bleiben. Wenn kaum noch etwas mit guter Absicht hinterfragt wird. Angst „vagabundiert“. Und: Macht macht sich breit. Verselbständigt sich, verunsichert. Und wenn dann nicht einmal die Sonne lacht, dann empfinden wir das noch viel tiefer. Schwerwiegender. Nicht nur bei trübem Wetter im beginnenden Herbst. Wir sind uns selbst nicht mehr so ganz sicher. Weil wir ständig verunsichert werden. Durch Nachrichten. Desinformation. Egoismus. Damit andere über uns Macht ausüben können. Und wir dann ohnmächtig sind. Unseren Kompass verlieren.

 

Gerade an Wahltagen wie an dem vergangenen Sonntag stelle ich mir die Frage: Wie kann unsere Demokratie in Zeiten eines Verfalls der Mitte und des sozialen Zusammenhalts gestärkt, aber auch bewahrt werden? Bedarf es neuer Instrumente und Begegnungsorte für den Dialog über strittige Themen wie Klimaschutz und Umwelt, Migration oder Religion? Und wo finden wir diese?  In einer Empörungsgesellschaft, in der mittlerweile jeder und jede an den medialen Pranger gestellt wird – wir haben es gerade wieder in letzten Wahlkämpfen erlebt – scheint der Kompass so mancher Mitmenschen nur noch nach Norden oder Süden zu zeigen. Ein wahrlich schmaler Ausschnitt unserer Lebenswelt. Doch darüber nörgeln und jammern hilft ja, wie schon erwähnt, kaum. Die überzeugte Christin und Politikerin Karoline M. Preisler hat es in ihrem Buch „Demokratie aushalten“ sinngemäß so formuliert: Sich in der Empörung über die Empörungsgesellschaft in einem Lager derjenigen zu vereinigen, die nicht dem Lagerdenken zugehörig sein wollen, erscheint geradezu paradox und hilft nicht weiter. -

 

Doch wie mit den „Empörern“ umgehen? Die Schriftstellerin Juli Zeh hat einen Hinweis gegeben, wie es gelingen könnte, gut durch diese Zeit zu kommen. Neben den AHA-Regeln, die in der Pandemie unsere leibliche Gesundheit schützen sollen, hat sie zum Schutz unserer kulturellen Gesundheit aufgerufen und „SOS-Regeln“ ersonnen: „Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten, Offenheit für abweichende Positionen und Sorgfalt beim Formulieren der eigenen Ansichten.“ Diese Regeln machen Sinn und ermöglichen einen fairen Dialog. Sie setzen allerdings den guten Willen voraus, mit gutem Beispiel vorangehen zu wollen und sich vor allem der Fehleranfälligkeit der eigenen Position bewusst zu sein. „Was siehst Du den Splitter in den Augen des Anderen und den Balken im eigenen Auge nimmst Du nicht wahr?“ Da erzähle ich Ihnen bestimmt nichts Neues. Was hindert uns also, uns diese Haltung zu eigen machen? - Von Hildegard von Bingen ist folgender Ausspruch überliefert: „Du hast Augen im Kopf, damit du dich nach allen Seiten umschauen kannst. Entdeckst du irgendwo Schmutz, so wasche ihn ab. Siehst du etwas vertrocknen, so lass es wieder grün werden. Hättest du keine Augen, wäre dein Verhalten zu entschuldigen. Aber du hast ja welche. Warum also schaust du dich mit ihnen nicht um?“ – Ja, warum schaust Du Dich nicht um? Sensibel, offen, sorgfältig – möchte ich hinzufügen. Die Antwort auf die Empörungsgesellschaft sollte nicht der Gegenangriff sein, sondern die Abrüstung einer aufgerüsteten Debatte. Dann könnte eine Streitkultur wachsen, die maßvoll mit Konflikten umgehen kann. Mit Konflikten, die kein Ausdruck von Gegnerschaft und Hass wären, sondern erst einmal von unterschiedlichen Interessen. - „Lass dir an meiner Gnade genügen“, sagt Gott. „Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Diese Zusage macht Mut zu leben. Auch mit der eigenen Angst. Trotz allem.... -  

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Woche. Ihr Gert Holle 


Autor: Gert Holle - 23.09.2024