Angedacht: Ein ganz normaler Tag – oder doch nicht? - von und mit Gert Holle
Es gibt Tage, die vergisst Du nicht. Die brennen sich ins Gedächtnis und
treten immer wieder aus der Vergangenheit hervor. Bei dem einen mag es der erste Schultag sein. Bei anderen ein bestimmter Geburtstag, an dem ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung ging. Der Tag,
an dem Du als kleiner Fußballfan Deine Lieblingsmannschaft im Stadion gesehen hast. Oder der Tag, an dem Du Dich das erste Mal so richtig in einen anderen Menschen verliebt hast. Der Tag der
Eheschließung. Als die Kinder zur Welt kamen. Der Tag, an dem Dir Dein Chef, der Dich sonst nie beachtete, ein unerwartetes Lob aussprach. Oder der Tag, an dem sich alles änderte, weil Du in eine
andere Stadt, in ein anderes Dorf gezogen bist. – Ich möchte Sie heute zu einem kleinen Experiment einladen: Halten Sie gleich für ein bis zwei Minuten inne. Schließen Sie Ihre Augen, wandeln Sie
in Ihrer eigenen Vergangenheit und lesen Sie erst dann weiter. Nehmen Sie sich ruhig die Zeit. Also, schließen Sie bitte die Augen. -
Ich bin sicher, Ihnen sind Ereignisse aus Ihrem Leben eingefallen, die lange verborgen waren. An Ihrem inneren Auge zogen vielleicht Erlebnisse vorbei, die einmal so eindrücklich waren, dass sie
schließlich in Ihrer persönlichen Vitrine einen Ehrenplatz bekommen haben. Momente, die mit einmalig schönen Gefühlen verbunden sind, bis zum heutigen Tag. Das eine oder andere schien
möglicherweise für immer vergessen. Aber, und das ist das Phantastische, je emotionaler es war, umso tiefer ist es haften geblieben.
Und dann gab es vielleicht ein Bild, von dem können Sie gar nicht sagen, warum gerade dieses hervorgetreten ist. Und wenn Sie gefragt würden, antworten Sie: „Das war doch damals eigentlich ein
ganz normaler Tag – nichts besonderes. Ich kann es mir nicht erklären.“
Mir ging es ähnlich, als ich gestern einen mir wohl vertrauten Text in der Bibel nach langer Zeit einmal wieder las. Johannes der Täufer steht am Jordan, als Jesus auf ihn zukommt, und spricht:
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Und plötzlich befinde ich mich in einem Raum der theologischen Fakultät an der Mainzer Universität, bin 20 Jahre jünger, sitze mit zwölf
anderen Studenten um einen Tisch herum, sehe Professor Beißer, wie er stumm auf eine Flasche in der Mitte blickt. Endlose Stille. Plötzlich sagt jemand: „Da steht eine Glasflasche!“ Stille. Eine
andere: „Das ist Wasser, Mineralwasser“. Ein Dritter: „Das ist bestimmt Taufwasser aus dem Jordan, das Sie uns mitgebracht haben.“ Wieder endlose Stille. „Eigentlich ist das Wasser hier zum
Trinken“, hob er an. „Aber ich bin verblüfft, was Sie alles in einer simplen Flasche sehen können. Doch greifen wir ihre Gedanken auf, obwohl wir ja über das Thema ‚Glauben und Wissenschaft‘
diskutieren sollten: Gehen wir also an den Jordan und schauen, was sich da laut Bibel abgespielt hat.“ So hörten wir von Johannes, der bezeugte, dass Jesus Gottes Sohn ist. Denn er sah den Geist
auf Jesus wie eine Taube vom Himmel herabfahren und auf ihm bleiben. – Erstaunlich, dass nach so vielen Jahren für mich diese Szene wieder lebendig wurde. Oder doch nicht? – Denn in der Rückschau
war es tatsächlich kein Tag wie jeder andere. Abgesehen von den neu gewonnenen theologischen Erkenntnissen, hatte ich etwas mitgenommen, was mein weiteres Leben und mein Verständnis für Menschen
prägen sollte: Viele Leute können auf ein und dieselbe Flasche blicken, aber tatsächlich hat jeder andere Bilder vor sich und unterschiedliche Gedanken werden ausgelöst. Eigentlich banal. Doch
ich habe mir damals wohl für alle Zeiten klar gemacht: Menschen haben ganz unterschiedliche Blickwinkel und Ansichten, die nicht in die Kategorie ‚wahr oder unwahr‘, ‚richtig oder falsch‘ fallen.
Und das es so ist, könnte doch für uns alle großartig bereichernd sein. – Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie heute eines Ihrer Bilder aus der Vergangenheit weiterschenken und wünsche Ihnen ein
gesegnetes Wochenende!
Autor: Gert Holle - 20.02.2024